Rinat Avigur / 28 Jahre

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Kommt, lasst uns ein wenig über die Europäer lachen. Die in einem Film leben, die harmlos, naiv sind. Lasst uns über ihren unzulänglichen Geheimdienst, ihre Gleichgültigkeit und über die Tatsache sprechen, dass sie alle so hypersensible, um Nettigkeit bemühte Angsthasen sind, die sich nicht mit den großen Problemen der Welt auseinandersetzen und auch den Dingen, die sich vor ihrer Nase abspielen, keine Aufmerksamkeit schenken. Lasst uns noch ein wenig mehr über die Europäer lachen, die schließlich und endlich spüren, was wir bereits siebzig Jahre durchmachen, inzwischen auch Angst haben und ebenfalls gezwungen sind, auf ihren Positionen zu beharren, denn die Realität hat nun an ihre Tür geklopft und es gelingt ihnen nicht, diese Tür verschlossen zu halten. Sie müssen nun große Ströme von Menschen meistern, die in ihr Territorium eindringen und ihre Identität bedrohen.

Im Folgenden: Unterricht in Vergleichender Medienwissenschaft. Oder: Wie ich von dem Anschlag in Berlin erfuhr.

Ich war zu Hause, kam aus der Dusche, schrieb Freunden, wollte mich um das Abendessen kümmern. Im Meer der Push-Benachrichtigungen (vom Newsticker der Nachrichten-Webseiten) ging auf meinem Smartphone eine Meldung von der Website der Tageszeitung Ha’aretz ein (die ich immer schneller lese, weil die übrigen auf Deutsch sind und ich selbst eine zweizeilige Überschrift nicht so rasch erfassen kann): Attentat in Berlin, ein Toter, 9 Verletzte. In der Küche lief das Radio und war wie immer auf eine Frequenz eingestellt, die sich hauptsächlich mit Nachrichten befasst (ähnlich dem Nachrichtensender Galei Zahal, aber auf Deutsch) und wie ich bereits erwähnte, war mein Smartphone eingeschaltet und wartete nur auf die Newsticker der wichtigsten deutschen Nachrichtenseiten: Der Spiegel, Die Zeit. Doch in den folgenden Minuten fiel kein deutsches Wort über den Anschlag, der sich in einer Einkaufsmeile Westberlins ereignet hatte und von dem man offenbar nur in Israel wusste.

Sofort ging ich zur Alarmbereitschaft über und traf sämtliche Vorbereitungen, die im Fall eines Terroranschlages zu treffen sind: Zunächst schrieb ich eine Nachricht an die Gruppe der Familie, danach eine Nachricht an die Gruppe von meinem Studienprogramm: Seid ihr okay? Gebt mal eure Koordinaten durch; eine Nachricht an die Freunde, mit denen ich in jenem Moment korrespondiert hatte: Mist, in Berlin hat es einen Terroranschlag gegeben, bei mir ist alles okay; eine Nachricht an meine israelischen Freunde in Berlin; dann aktualisierte ich bei Facebook meinen Status, klickte an: Ich bin in Sicherheit; dann ging ich schnell ins Zimmer meiner Mitbewohnerin, die mit ihrer ebenfalls in der Stadt wohnenden Schwester telefonierte. Sind bei dir alle okay? Deine Freunde, deine Familie? Meine Mitbewohnerin fragte erstaunt, was denn los sei. „Ein Anschlag“, sagte ich zu ihr, während ich auf die Flut von Mitteilungen aus Israel reagierte, was wiederum meinen Facebook-Status, dass ich in Sicherheit bin, überflüssig machte.

Einige Minuten später (die mir wie eine Ewigkeit vorkamen) begannen die deutschen Webseiten zu berichten, dass offenbar irgendwo in Berlin etwas passiert sei. Sie hatten es nicht eilig damit, die Anzahl der Toten und Verletzten durchzugeben, stellten keine Vermutungen an, wer das getan hatte und weshalb. Sie meldeten lediglich, was passiert war: Menschen waren überfahren worden, die aktuelle Zahl der Verletzten wurde genannt. Sie interviewten noch keinen „Vertreter der Sicherheitskräfte“, der vor Ort war, schickten keine Kameras an den Tatort, klemmten sich nicht unter die Gürtellinie der Feuerwehrmänner, nahmen keine Leute fest, die vom Weihnachtsmarkt flohen (auf dem der Anschlag sich ereignet hatte), schoben ihnen kein Mikrofon ins Gesicht und zwangen sie nicht, genauestens zu schildern, was sie gesehen oder nicht gesehen hatten, interviewten keine Menschen auf Krankenbahren, die noch nicht wussten, wohin sie gebracht wurden, schalteten nicht Eitan Ben Elijahu live dazu, damit er über die sicherheitstechnischen Konsequenzen der Angelegenheit und die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen sprechen würde. Eigenartig.

Was mich betraf, so ging ich zur normalen Verhaltensweise am Abend nach einem Anschlag über: Unausgesetzt schaute ich mir die Bilder vom Schauplatz an, in der gesamten Wohnung liefen Fernseher und Radio, dazwischen trafen regelmäßige Updates von Mitbewohnern und Freunden ein, plus Facebook. Allerdings war mein übliches Verhalten am Abend nach einem Terroranschlag den Menschen in meinem Umfeld, dem Land, in dem ich war, äußerst fremd. In den Nachrichtenrubriken gab es keine Kommentatoren, die den Anschlag zu der ein oder anderen Organisation in Bezug setzten; es gab keine Politiker, die mitteilten, was man mit den Terroristen tun solle; es gab keine Familien, die ihre Angehörigen suchten, keine Tränen, kein Blut. Und vor allem – es wurde nicht als Anschlag bezeichnet. Erst am darauffolgenden Tag, nachdem die Polizei sich Hunderte Male vergewissert hatte, was sich dort abgespielt hatte, war von „Terroranschlag“ die Rede und nicht mehr von „Gewalttat“, wie es zuvor bezeichnet wurde. So ist das hier, man wartet auf die Informationen, man stellt keine Vermutungen an, es wird gearbeitet und dann neu überlegt. Das ist echt ein Ding.

Dem Terroristen glückte es, bis nach Mailand zu gelangen, wo er am Freitag, einige Tage nach dem Anschlag, von italienischen Sicherheitskräften erschossen wurde. Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung ging durch Deutschland und die Menschen verstanden, dass sie in aller Ruhe zu ihren Weihnachtsferien übergehen konnten, ohne sich sorgen zu müssen, dass ein Terrorist, der auf der Flucht war, durchs Fenster hereinspringen und beim Festmahl eine Keule von der Gans fordern würde.

Berlin erholte sich allmählich. Am Tag darauf waren in der Stadt alle Weihnachtsmärkte geschlossen. Der Weihnachtsmarkt ist in Deutschland eine Institution und von Ende November bis Anfang Dezember findet man sie in der gesamten Stadt (in der Hauptstadt umso mehr). Für die Deutschen ist es die Gelegenheit, den Winter zu vergessen, viele Schichten übereinander zu ziehen und im Freien Glühwein zu trinken, Würstchen zu verspeisen und kandierte Mandeln zu naschen. Dabei hören sie Chöre, die wunderbar unstimmig vor nur zwei Zuhörern (die offenbar nicht mitbekommen haben, wo die Schlange zu den Toiletten ist) Weihnachtslieder schmettern. Kurz gesagt: Es geht darum, an möglichst vielen Abenden vom Zimt berauscht zu sein, kurz bevor man nach Hause zur Familie zurückkehrt, um Weihnachten und anschließend Neujahr zu feiern.

Zwei Tage nach dem Anschlag empfingen die meisten Weihnachtsmärkte wieder Besucher und ich, die bis auf meine Alarmbereitschaft aus irgendeinem Grund Mühe gehabt hatte, sich mit dem Ereignis emotional zu identifizieren, stieg am Morgen am Kurfürstendamm aus der U-Bahn aus und ging direkt zu dem Schauplatz des Anschlags. Gegenüber der (vom Krieg) halbzerstörten Kirche, zwischen Polizeiwagen und geschlossenem Glühweinstand, unter den Absperrbändern, die den Zutritt zu verschiedenen Bereichen eines Gebiets untersagten, das bis vor zwei Tagen ein Ort des Vergnügens und der Touristen gewesen war, konnte ich nachvollziehen, was den Menschen zugestoßen war, konnte ich ihren Kummer spüren und mich einen Augenblick lang mit ihnen identifizieren. Wohnt man drei Jahre in Jerusalem, wird man nur bis zu einem bestimmten Grad abgehärtet.

Am selben Tag beschlossen rechte Bewegungen in Berlin eine Demonstration zu organisieren, die die Regierung deutlich dazu aufrief, keine weiteren Flüchtlinge ins Land zu lassen, die Sicherheitsmaßnahmen an öffentlichen Plätzen zu verstärken, die Kontrolle von Farbigen und Menschen verschiedenster Hintergründen zu verschärfen, die Grenzen zu verstärken. Dagegen formierte sich eine gemeinsame Demonstration von Berlinern und Flüchtlingen, die zum Frieden, zur Unterlassung von Gewalt und zur Akzeptanz des Anderen aufriefen. Eine Demonstration, die an die Menschen appellierte, sich im Namen der Menschlichkeit und nicht im Namen der Angst zu vereinigen. Gegen jede Demonstration der Rechte, die zur Verstärkung der Gewalt aufruft, findet hier eine Gegendemonstration statt. Manchmal denke ich, dass die Berliner Polizisten nur mit einer Mission befasst sind – der Absicherung von Demonstrationen und Gegendemonstrationen. Ist es ein Wunder, dass ihnen keine Zeit bleibt, um die Terroristen aufzuspüren?

Lasst uns also ein wenig über die Europäer lachen. Lasst uns über Nizza, Paris, Berlin, über Brüssel lachen. Lasst uns über die Tatsache lachen, dass kein Bürger auf die Idee kam, Nunchakus oder einen Selfie Stick oder eine M-16 einzusetzen und den Fahrer zu vernichten, der die Menschen überfuhr. Lasst uns über Gleichgültigkeit und Harmlosigkeit lachen, Lasst uns über ihre Unfähigkeit zur Auseinandersetzung lachen.

Oder nicht.

Lasst uns ins Gedächtnis rufen, dass der zentrale Wert, in dessen Namen die Europäische Gemeinschaft vor genau sechzig Jahren gegründet wurde, der Frieden war. Lasst uns ins Gedächtnis rufen, dass sich in den Grenzen der Europäischen Union (und nicht in ganz Europa) im Laufe der letzten siebzig Jahre kein Krieg ereignet hat. Lasst uns ins Gedächtnis rufen, dass Europa seine Erfahrungen mit kriegerischen Auseinandersetzungen, Tod, Blut, Gewalt hat. Dass viele der hiesigen Bürger die Hinterlassenschaften des Krieges ihrer Großeltern mit sich herumtragen, das Schandmal der Zerstörung und des Mordens, das sie an vielen Orten der Welt einkerbten. Lasst uns ins Gedächtnis rufen, dass die Europäer genauso wenig vergessen haben wie wir. Sie sind weder dumm noch harmlos, leben nicht in einem Film. Sie haben schlichtweg die Entscheidung getroffen, sich anders damit auseinanderzusetzen. Lasst uns etwas lernen, bevor wir lachen. Und kommt nach Berlin, lasst uns zusammen Glühwein trinken.

Übersetzung: Ulrike Harnisch


Rinat Avigur, 28 Jahre
hat im Rahmen des Kom-mit-Nadev-Programms 2012/2013 einen Freiwilligendienst in Deutschland geleistet. Seit September 2017 studiert und arbeitet sie in Deutschland.