Ya'ara Steiner / 32 Jahre

Ein illegaler Mensch

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Mitte November landeten wir in Berlin und nahmen einen Flixbus nach Leipzig. Dort wollten wir Daniel treffen, einen Freund, der aus Israel ausgewiesen worden war. Nachdem er einige Jahre in Arad im Negev gelebt hatte, war es ihm nicht gelungen, sein Aufenthaltsvisum zu verlängern. Ich hatte Daniel vor sieben Jahren kennengelernt, als ich mit Freundinnen unterwegs war. Er stand an einem glühenden Sommertag am Ausgang einer Tankstelle an der Autobahn Nr. 6 und wartete auf eine Mitfahrgelegenheit. Später besuchte er uns einmal in unserer Kommune in Benjamina und half uns beim Aufbau der Festivalbeleuchtung. In unserem Gästehaus in Jerusalem installierte er ganz umsonst eine Wifi-Verbindung.

Der Flixbus hielt in Leipzig an einer unscheinbaren, dunklen Haltestelle. Von Daniel keine Spur. Am Ende der Straße sahen wir einen riesigen Busbahnhof und eilten dorthin. Wir entdeckten eine Geisterhalle voller riesiger Weihnachtsbäume. Wir suchten nach Daniel oder nach einem Laden, in dem wir eine lokale Sim-Karte kaufen konnten, fanden aber nichts. Wir stiegen Treppenfluchten auf und ab. Dann gingen wir wieder hinaus. Die Kälte tat den Zähnen weh. Wir kehrten zur ersten Haltstelle, an der wir ausgestiegen waren, zurück. Dort stand Daniel. Er trug schwere schwarze Stiefel, schwarze Kleidung und rauchte eine dünne selbstgedrehte Zigarette. Sein blondes Haar leuchtete in der Dunkelheit. Als er uns sah, warf er die Zigarette weg, dankte dem Mann, der neben ihm stand, und kam uns lächelnd entgegen. Wir umarmten uns und murmelten Begrüßungsworte. Gemeinsam liefen wir dann rasch und weit ausschreitend zur Tram. Kauften Fahrkarten wie brave Kinder. In Deutschland hat man das Gefühl, man könne sich aussuchen, ob man eine Fahrkarte kauft oder nicht. An einer Haltestelle im Osten der Stadt stiegen wir aus. Wir standen im buntesten Viertel, das ich je gesehen hatte. Wir gingen durch Comics. Zu beiden Seiten der Straße keine Hauswand, die nicht bemalt worden war. Einige der Gebäude waren verlassen, alle zusammen ergaben ein Mosaik mit Slogans und Malereien. Zwischen ihnen ein schmaler, dunkler Himmelstreifen.

Daniel und die Mitglieder seiner Gemeinschaft leben in einem Squat, Mohn-Caravan genannt, auf Grund und Boden, den sie selbst gewählt hatten. Auf vergifteter Erde. In der Vergangenheit waren hier Chemiefabriken angesiedelt. Dann fiel die Mauer, und alles wurde verlassen. Jetzt, so erzählt uns Daniel, ist Leipzig die am rasantesten wachsende deutsche Stadt. Zwei Tage vor unserer Ankunft wurden sie von dem Stück Land, auf dem sie im letzten Jahr gelebt hatten, vertrieben, aber sie zogen einfach dreihundert Meter weiter.

Wir stiegen in Daniels Trailer. Er stand auf Betonblöcken hoch über der schlammigen Erde. Ich musste mein Bein bis zu den Ohren anheben, um hineinzuklettern. Daniel überließ uns sein Bett. Eine alte Matratze, aus der Sprungfedern aufragten. Der Caravan war feucht, kalt und vollgestopft. Wir stellten unsere Taschen ab und gingen zum Küchencaravan, um uns aufzuwärmen und etwas zu naschen. Wir waren zu spät gekommen und hatten den Saunaabend im lilafarbenen Caravan verpasst, desgleichen die Abendmahlzeit im japanischen Squat. In der nur schwach beleuchteten Küche trafen wir Sivia und Chris. Chris setzte sich zu uns und drehte sich eine Zigarette, er war völlig erschöpft. Sivia, im Flanellhemd und mit einem spitzbübischen Pony, aß im Stehen Eclairs aus einer Plastiktüte.Sie war hyperaktiv und ganz versessen darauf, die neue Heimstätte zu organisieren. Chemische Toiletten hatten sie schon gebaut, und jetzt versuchten sie zu einer Entscheidung zu kommen, welche Sonnenkollektoren sie benutzen sollten. Es tobte ein heftiger Streit, ob man sich billiger, gebrauchter Kollektoren bedienen sollte oder ob es besser war, Geld, das zurzeit niemand besaß, in neue Kollektoren zu investieren. Die Debattierenden erhoben erregt ihre Stimmen und glitten ins Deutsche über.

Nachdem wir Tee getrunken und die Eclairs aufgegessen hatten, die aus einem Supermarkt stammten, der nach Ladenschluss Reste gegen Berechtigungsscheine ausgab, begleiteten wir Sivia zu einem Nachbarsquat, um Batterien zu holen. Mit Schubkarre und Taschenlampe zogen wir durch den Schlamm. Auf einer Brücke überquerten wir einen Bach. Der Asphalt war mit Pfützen, einem bunten Gewirr aus geometrischen Formen und Liebesbriefen bedeckt. Dann kamen wir an ein großes blaues Tor, das wir öffneten. Im Nachbarsquat war es nett und ordentlich. In den Bäumen hingen Lichterketten und angelegte Wege führten zu verschiedenen Bereichen. Wir machten Halt an einem hölzernen, rot gestrichenen Lagerschuppen. Dort musterten wir die Batterien und wussten nicht, von welcher Seite wir sie abmontieren sollten. Vorsichtig schlossen wir die Deckel der einzelnen Zellen, aber nicht bis zum Anschlag. Das Beladen war nicht einfach, die Batterien waren schwer und im Schuppen war es dunkel. Unsere Rücken zitterten, unsere Fingergelenke wurden weiß. Schwer atmend stellten wir die Batterien in die Schubkarre und rollten zurück zum Squat Mohn-Caravan. Dort schlossen wir die Batterien an, und die Küche erstrahlte in hellem Licht.

Daniel hustete, er war dünn und wirkte krank. Es war kalt, und er ernährte sich nicht gut. Ich fragte mich, warum er, ein Computeringenieur, der für bekannte Cybersicherungsfirmen gearbeitet hatte, ein Mann, der in der Wüste mit einem Kaktus und Kreidegestein für Wifi sorgen konnte, der sich sicher eine bequeme oder zumindest zentralgeheizte Wohnung leisten könnte, warum der so lebte. Er erklärte mir, dass er keine Arbeit annähme, die nicht mit seinen Idealen zu vereinbaren sei. Er will den großen Konzernen nicht dabei helfen, die Welt auszurauben. Und eine Arbeit annehmen, die ihn nicht interessiert, möchte er auch nicht. Selbst wenn das bedeutet, in der Kälte und von Lebensmittelscheinen zu leben, ohne Dusche oder Leitungswasser.

Wir öffneten eine Flasche Rotwein. Der schwere Duft war betäubend, wir tranken warme Seen. Perfekt. Wein für drei Euro.

Danach gingen wir in eine Bar. Dröhnende Bässe kitzelten mein Becken. Mädchen in abgetragenen Jeans und selbstgestrickten Pullovern, bärtige junge Männer mit Wollmützen, alle tätowiert mit Sprüchen, Zeichen oder Gegenständen wie Scheren oder einem altmodischen Nokia-Handy. Ich sah sogar einige Leue mit Auberginentatoos. Feine Hände drehten Zigaretten, es wurde diskutiert, aber mit einem Lächeln, an den Wänden hingen Poster mit politischen Botschaften. Es war berührend zu sehen, dass jeder dort  eine Agenda und eine utopische Vision zu haben schien. Feiner Rauch stieg auf. Den Alkohol gab es umsonst, oder es hieß: zahlt, was ihr wollt. Daniel erzählte, dass das Lokal trotz dieser Wirtschaftspolitik Geld verdiente. Wir tranken eine Dose Bier. Als der Barmann hinter dem Tresen hervorkam und alle wegschickte, lud ein junger Mann mit schwarzen, von schweren Lidern bedeckten Augen alle auf einen Joint in seine Wohnung ein. Wir zogen los, wohl zwanzig lachende, schwankende, dampfende Gestalten. In der Wohnung angekommen, ließen wir uns auf dem Küchenboden nieder. Ein Paar war dabei, das einmal in Jerusalem gelebt hatte, ein weiteres Mädchen war in Israel aufgewachsen. Überall stößt man auf Israelis. Ein Typ mit neugierigen braunen Augen fing an, in gebrochenem Deutsch mit uns zu reden. Erst nach einigen Minuten, nachdem wir gemerkt hatten,  dass keiner von uns Deutsch sprachen, wechselte er ins  Persische. Dort auf dem Küchenboden neben dem Abfallbehälter versuchten wir einander zu verstehen. Wir sprachen mit Fingern, die Linien auf den weißen Küchenboden zeichneten, und mit Lächeln. Ich kann mich an niemanden erinnern, der so viel Geduld für ein Gespräch aufbrachte, wir wollten einander unbedingt verstehen. Sein Name war Reza. Als wir aufbrachen, schloss er sich uns an. Wir gingen durch einen Asphalt-Wadi, umgeben von Betonfelsen. Im Küchencaravan tranken und redeten wir weiter, Daniel übersetzte uns Rezas gebrochenes Deutsch. Um der Gewalt und dem diktatorischen Regime in seiner Heimat zu entkommen, war er zu Fuß aus dem Iran nach Leipzig gewandert, besaß keinen Pass und keine Papiere. Er erzählte, er würde von Fleisch träumen, in Deutschland gäbe es kein Fleisch. Wir lachten und erklärten, das scheine ihm nur, weil er bei den Hardcore-Hipstern gelandet sei. Das überraschte ihn sehr. Er war beschwipst und ganz aufgeregt, etwas über andere Länder zu hören. Er wollte uns in Israel besuchen, konnte aber momentan nicht aus Deutschland raus. Er war illegal. In seinem Lächeln lagen Hoffnung und Traurigkeit zu gleich. Und dann verstand ich: Sie waren einfach in Europa eingedrungen. Sie spielten das Spiel der grenzziehenden Autoritäten nicht mit. Spielten einfach nicht mit.

Wir kehrten zu Daniels Caravan zurück. Er legte Holz in den Kamin, zündete ein Feuer an und legte sich in seinen Schlafsack. Wir schliefen auf der Matratze mit den herausragenden Sprungfedern. Am Morgen gingen wir zum Duschen in eine andere Straße. Das heiße Wasser tat uns gut. Das Haus musste früher einmal prächtig gewesen sein. Die Eingangshalle war vollgestopft mit Dingen, Bildern, einem verblichenen roten Samtsofa. An den Wänden Prophezeiungen. Die Sonne wird nie mehr scheinen. Was? Mord. Gemalte pelzige Geschöpfe Hand in Hand.   Geschlechter haben keine Zukunft. Liebesworte für die Flüchtlinge. Ein Dreieck mit einem Auge in der Mitte, die Schenkel in Deutsch beschrieben. Eine mechanische Lotusblume, Zukunft und Vergangenheit sind nur ein Scherz für den Verstand. Eine Gestalt mit einem riesigen Bauch und einem winzigen Kopf, ein Avocadokern, aus dem ein Sprössling hervorbrach, unter ihm Wurzeln. Eine vieräugige Katze.

Das Wasser war wunderbar heiß. Danach fuhren wir zu einem Squat auf der anderen Seite der Stadt, der eigentlich gar kein Squat mehr war, da die Mitglieder das Grundstück gekauft hatten. Am Eingang ragte ein Wasserturm auf, der ganz und gar mit Augen bemalt war, die uns anstarrten. Der Weg führte weiter zu einem Caravanendorf. Alte Bäume, ein neues Holzhaus beherbergte die Gemeinschaftsküche und Räume für verschiedene Aktivitäten. Wir trafen Lorre, einen hochgewachsenen, feminin wirkendenjungen Mann, der uns lächelnd mit sanfter Stimme das Leben im Dorf erklärte. In einem Raum mit einem riesigen Fenster nahm Latifa Maß und setzte Schrauben ein. Wir lächelten ihr zu, und sie erzählte uns, dass sie aus Marokko stammte und lud uns auf einen Kaffee in ihren Caravan ein. Er stand runter einem Baum stand. Dort kochte sie duftenden Kaffee und servierte uns Toast mit einem süßen, aus Casablanca stammenden Aufstrich. Lächelnd und mit Umarmungen verabschiedeten wir uns von allen. Am Ausgang staunten wir wieder über den mächtigen Wasserturm. Wir fuhren nach Hause und saßen dann bis zum frühen Morgen in der Gemeinschaftsküche. Palo und Matti, beide lockig und schön,  arbeiteten an einem Vortrag über die katalanische Unabhängigkeitserklärung, die vom spanischen Ministerpräsidenten für ungültig erklärt worden war. Das Ereignis hatte ihre Heimat seinerzeit erschüttert. In beiden brannte das Adrenalin der Revolution.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Berlin in eine wohl ausgestattete, in Kreuzberg-Mitte gelegene Airbnb-Wohnung. Wir duschten und fühlten uns gleich wie zu Hause. Wir kauften reichlich Lebensmittel ein, Bier, Brot, Gemüse, Fische, Wein in allen Farben und Schokolade. Alles für zwanzig Euro, darüber mussten wir lachen, in Israel hätten wir sicher fünfzig bezahlt. Abends gingen wir in einen Club. Dort lernten wir Jens kennen, einen fünfzigjährigen lieb lächelnden Mann. Wir redeten, und er fragte, woher wir kämen. Als Mensch, der noch zuzeiten der Berliner Mauer gelebt hatte, wusste er um das durch sie verursachte Leid, kannte aber auch die Ekstase der Befreiung, die ihr Fall ausgelöst hatte. Jens begriff nicht, wieso es nach alledem immer noch Mauern auf der Welt gab. Es fiel ihm schwer, das Wort Mauer über die Lippen zu bringen.

„Das deutsche Volk ist ein Volk freier Menschen“, erklärte er.
„Jeden Montag gingen wir demonstrieren,
jeden Montag wurden wir mehr.“
„‘Wir wollen frei sein!‘, schrien wir,
‘Wir wollen frei sein!‘“
„Bis sie eines Tages von der anderen Seite kamen
und niemand schoss.
Zwei Wochen lang haben wir dort gefeiert.
Alles war gratis, die Leute verteilten Essen, Trinken, Drogen.
Auf der gefallenen Mauer haben wir uns geliebt.“

Übersetzung aus dem Hebräischen: Helene Seidler


Ya’ara Steiner, 32 Jahre
reiste im November 2017 Deutschland.