Tomer Tabakman / 34 Jahre

Ein Tag hier, ein Tag dort

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7.2.18

„Sitzen, bitte“, murmele ich und mache meinen Platz in der warmen überfüllten Tram frei. Der alte Opa lächelt mich an und sagt etwas, das jenseits meines Verständnisses der deutschen Sprache liegt oder zumindest sagt er es nicht in der erforderlichen Langsamkeit. Seiner Frau war es gelungen, in der Sitzgruppe auf der anderen Seite des Gangs einen Platz zu ergattern und die beiden lächeln sich an.
„Mein Opa ist gestern wieder ins Krankenhaus“, sage ich zu Shani, die sitzt. Sie blickt von ihrem Smartphone auf: „Ach, schon wieder? Wie das denn?“, erkundigt sie sich.
„Er hat wieder diese Flüssigkeit in die Lunge bekommen, das passiert immer wieder und bei jedem Mal macht es ihm mehr zu schaffen.“
Die Tram hält und leert sich beträchtlich. Der Alte erhebt sich langsam und lächelt mich an. Was mag er während des Krieges gemacht haben? Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich hier einen alten Mann erblicke. Die Tram setzt sich in Bewegung. Er macht einige Schritte und wechselt auf den freien Platz neben seiner Frau.
„Lohnt sich nicht“, sagt Shani, als ich mich hinsetzen will. „Wir steigen gleich aus“, sie steht rasch auf und steckt ihr Handy in die Tasche. „Komm.“ Wir stellen uns an die Tür. Die beiden Alten schauen hin und wieder zu mir und lächeln.
„Steht man hier für die alten Leute nicht auf? Sie freuen sich doch so sehr“, erkundige ich mich bei Shani und versuche nun, da ich schon zehnmal nett genickt habe, den Blicken der beiden auszuweichen.
„Keine Ahnung, darauf habe ich nicht so geachtet.“
Die Straßenbahn hält und wir springen raus. „Was soll die Scheiße?“, rutscht es mir schrill heraus.
„Das ist total unklar. Aus irgendeinem Grund ist es in dieser Straße immer kalt“, antwortet Shani und wir vergraben uns in den Klamotten. Nach einigen Schritten stecke ich meine Hand in ihre Manteltasche. Das ist momentan das Dichteste an Körperkontakt, wobei sie Handschuhe trägt. „Dieses ganze Viertel war bis vor Kurzem fast völlig verlassen.“
„Was soll das heißen?“ Ich betrachte die Gebäude an der Seite, die mit ihren grünen, niedlich wirkenden Vorgärten einen gepflegten Eindruck machen.
„Ja, die Leute sind einfach hier eingezogen und haben gemacht, was sie wollten.“
„Das kann nicht sein. Haben die Häuser denn keinem gehört?“
„Ich weiß nicht, so wurde es mir erzählt. Es sind Gruppen von Leuten gekommen, die die Häuser gekauft und rekonstruiert haben. Inzwischen ist es hier teuer wie überall.“
„Gut“, gebe ich mich zufrieden, obwohl mir scheint, dass es aus der Luft gegriffen ist.
„Noch ein Stückchen.“ Sie hat wohl das Gefühl, dass ich mich dahinschleppe. Offenbar ist irgendein Muskel vor Kälte erstarrt. Seit zwei Tagen habe ich Schmerzen, sobald ich länger als drei Minuten gehe. „Uff, das ist so ärgerlich, dass du schon zurück musst.“
„Ja, es war toll hier.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf eine Stelle an der Wange, die nicht von ihrem Schal verdeckt ist. „Aber ist dir mal aufgefallen, dass du seit meiner Ankunft vor allem darüber sprichst, dass ich bald wieder fahre? Ich bin schon anderthalb Wochen hier und ich muss auch wegen meiner Arbeit zurück. Außerdem hast du hier noch einen ganzen Monat vor dir, na ja, ein bisschen weniger.“
„Stimmt, na und?“, meint sie selbstzufrieden. Nach einigen Schritten sagt sie: „Wir lachen ständig darüber, dass ausgerechnet neben unserem schlichten Atelier Mercedes sitzt.“ Erst nach einigen Schritten wird mir klar, wovon sie redet, denn als ich den Kopf aus meiner wärmespendenden Verkrampfung recke, sehe ich vor mir einen luxuriösen Glasbau und auf Hochglanz polierte Karossen, die auf Podesten stehen.
„Was ist das denn?“, frage ich verwundert, da es so gar nicht in diese Gegend passen will. Je näher wir dem Gebäude kommen, desto mehr verstehe ich, dass wir bereits in einem Industriegebiet sind. Die schönen Häuser liegen hinter uns und die Straße, in die wir einbiegen, ist gesäumt von baufälligen Industriefassaden.
„Ich hab’s dir doch gesagt.“
„Ist es noch weit?“, jammere ich.
„Geht so.“ Wir überqueren die Straße. „Das hab’ ich nur so gesagt, ich hab’ dich an der Nase herumgeführt. Wir sind da.“ Sie bleibt vor dem Haus neben Mercedes stehen. Vielleicht war es früher eine renommierte Fabrik, doch davon ist kaum noch was zu sehen. Die drei Stockwerke sind in schlechtem Zustand, aber am Dachgeschoss hängt noch ein Schild mit der Aufschrift „Linden-“.
„Okay.“ Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf reagieren soll. Sie lächelt, ich lächele gezwungen.
„Ich hab’ dir ja gesagt, dass hier alles verlassen ist. Seit dem Krieg hat kein Mensch an diesem Gebäude etwas unternommen.“ So langsam beginne ich, ihr die Geschichten abzukaufen. „Aber innen, hinten, ist es phantastisch.“ Sie treibt mich zum Weitergehen an. „Wirklich.“

8.2.18

„Kaum bin ich zurück in Israel und schon hätte ich mich beinahe mit einem Idioten geprügelt, der mir im Bus-Shuttle auf dem Weg zum Parkplatz begegnete. Es ging um einen beschissenen Koffer. Das habe ich wirklich nicht vermisst.“ Ich werfe einen Blick auf meinen Mantel, der auf dem Nebensitz liegt. Der würde bestimmt gern zurück in die Berliner Kälte.
„Und wie war der Flug?“, fragt meine Mutter am Telefon.
„Ganz okay, außer, dass ausgerechnet der Lufthansa-Flug vier Stunden Verspätung hatte. Bloß gut, dass ich bis zu meinem Anschluss ausreichend Zeit hatte. Das Flugzeug von El Al traf nämlich früher ein, verkehrte Welt. Was soll’s. Wie geht’s Großvater?“
„Nicht zu glauben, aber es geht ihm viel besser. Ich war vorhin bei ihm, er hat geredet wie ein Wasserfall.“
„Verfluchte Scheiße!“ Ständig wechselt der Fahrer vor mir die Spur. „Wie schön. Ich fahre gleich zu ihm.“
„Willst du vorher nicht nach Hause?“
„Besser jetzt und dann gehe ich auf direktem Weg ins Bett. Ich bin ziemlich fertig, weil aus viereinhalb Stunden Flug zwölf Stunden Flughafen geworden sind.“
„Wunderbar. Gute Idee.“
„Wo liegt er denn?“
„Auf der gleichen Station, der linke Gang.“
„Gut, ich bin am Tor. Tschau.“
„Tschau. Gib mir mal Bescheid, wie es bei ihm war.“
Ich stecke das Telefon in den Mantel und lasse das Fenster herunter: „Schalom“. Ich warte, dass der Pförtner mich durchlässt. Nun nickt er mir zu, aber der Fahrer vor mir hatte sich nicht schnell genug den Parkschein geschnappt, sodass die Schranke unten blieb.
„Kommen Sie als Patient?“ Er schaut auf meine Koffer, die auf der Rückbank liegen.
„Nein, als Besucher. Ich komme direkt vom Flughafen.“ Ich klopfe mir demonstrativ auf die Schulter und er nickt mit ernstem Blick.
Der Fahrer vor mir hat immer noch nicht begriffen, wie die Schranke funktioniert.
„Und was gibt’s Neues?“, fragt der gelangweilte Pförtner. Meint er es im Scherz oder im Ernst? Bevor mir eine Antwort einfällt, geht die Schranke hoch, das Auto fährt durch und rettet mich vor dem sinnlosen Fortgang dieses Gesprächs. Flink ziehe ich einen Parkschein und fahre durch die Schranke. Um diese Uhrzeit findet man leicht einen Parkplatz neben dem Eingang und auch ohne Anspruch auf Behindertenparkplatz. Diese Blödmänner von der Cafeteria haben schon geschlossen, dabei habe ich Lust auf was Süßes. Der Geschmack von diesem Sandwich, das für ordentlich Sodbrennen sorgt, steckt mir noch in der Kehle. Erdnussflips. Ich merke, dass ich Lust auf Erdnussflips habe, als ich den Automaten neben dem Fahrstuhl erblicke. Nach minutenlangen Versuchen, die Münzen einzuwerfen, gelingt es mir endlich, die Flips zu ergattern. Stolz betrete ich die Station mit der Tüte und biege in den linken Gang ein. Ich sehe Großvater, er liegt am Ende des Gangs auf dem Bett, neben ihm seine Pflegerin Mary und eine andere Frau, die in einem Sessel sitzt.
„Großvater, wie geht’s dir?“, frage ich. „Wie fühlst du dich?“
„Ich habe keine Kraft mehr dafür.“
„Warum bist du hier und nicht in deinem Zimmer?“, wechsele ich das Thema. Ich bin gerade nicht in der Lage, seine Litanei vom Ende zu ertragen. Ich biete ihm meine Erdnussflips an.
„Wir waren dort“, antwortet Mary. Ich bin jedes Mal überrascht, wie gut sie schon Hebräisch versteht.
„Menasche, dieser Verrückte, schreit die ganze Zeit herum und trommelt wie ein Wilder mit den Händen.“ Dabei ahmt er matt die Bewegungen nach und gibt mir zu verstehen, dass ihm nicht nach Erdnussflips ist. „Deshalb konnte ich da nicht schlafen.“ Sein Atem geht schwer. „Kennst du Sarah?“ Er hebt die Hand und deutet auf die neben ihm sitzende Frau, während ich Mary Erdnussflips anbiete.
„Ich bin die Nachbarin von deinem Großvater aus der zweiten Etage,“ sagt sie, als sollte ich das ohnehin wissen. Mary nimmt sich zwei Erdnussflips.
„Ich habe deinen Großvater unheimlich gern, er erinnert mich an meinen, der gleiche Typ“. Mir drängt sich langsam die Frage auf, was sie von ihm will. „Gerade hat er mir von seinem harten Leben im Krieg und von seiner Familie erzählt, die er damals hatte.“
„Ja“, sagt Mary und steckt sich die Erdnussflips in den Mund.
„Greif zu“, sage ich zu ihr, aber mehr will sie nicht.
„Ich muss gehen“, sagt Sarah. „Ich besuche dich morgen wieder.“
„Jeden Tag sie kommt, will mit ihm sein“, sagt Mary. Es gibt noch Wörter, über die sie stolpert.
„Danke“, sagen Großvater und ich im Chor. Sarah steht auf und geht. Ich setze mich in ihren Sessel.
„Wie war es in Deutschland?“, fragt Großvater.
„Ich hatte eine tolle Zeit. Es war kalt und ruhig. Wie schön es dort ist.“
„Und Shani?“
„Sie ist ungewöhnlich erfolgreich, macht schöne Dinge. In einem Monat kommt sie zurück.“
Mary prüft die Tüte mit der Flüssigkeit, die über ihm hängt.
„Aber wie geht es dir? Als ich gefahren bin, dachte ich, dass es dir schon besser gehen würde.“
„So ist das eben. Da gibt es keinen Fortschritt mehr“, sagt er und greift nach dem eisernen Griff des Bettes, um sich aufzusetzen.
„Vielleicht stehst du ein wenig auf, versuchst zu sitzen. Was meinst du?“
„Ja, ein wenig sitzen“, Mary stimmt mir zu.
„Na gut“, seufzt er.
„Super.“ Ich stehe auf, lege die Tüte mit den Erdnussflips auf die Kommode und wische meine Hände an den Hosenbeinen ab. In der Zeit klappt Mary den Hebel des Bettes herunter und hilft ihm langsam und vorsichtig hoch. „Ich gehe hierhin“, sage ich hauptsächlich zu mir, stelle mich auf die andere Seite und überlege, wie ich helfen kann. Mary macht ihm die Riemchen der Sandalen zu und bringt die Urin-Tüte am Stuhl an.
„Das machst du toll“, spreche ich uns allen Mut zu. Mary hält ihm die Hand, ich ergreife sofort die andere. Und bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wie dünn und kraftlos seine Hände inzwischen sind.
„Auf geht’s“, sagt sie. Wir helfen ihm beim Aufstehen oder stellen ihn eher auf die Beine. Zwei lange und schwerfällige Schritte, eine kleine Runde an Ort und Stelle.
„Setz dich, Großvater, setz dich“, sage ich. Er lehnt sich zurück, ich lächele ihn an, auch Mary lächelt. Ich setze mich auf die Bettkante und greife nach der Tüte mit den Erdnussflips, die fast leer ist. Einige Augenblicke später fallen ihm bereits die Augen zu.
„Er ist sehr müde“, fasst Mary zusammen.

Übersetzung: Ulrike Harnisch


Tomer Tabakman, 34 Jahre
war zweimal auf Besuch in Deutschland. Das erste Mal reiste er als Fan mit einer Fußballmannschaft nach Hamburg und das zweite Mal vor einigen Monaten, als seine Freundin in Leipzig an einem Workshop teilnahm.