Yarden Ben-Zur / 32 Jahre

Der Teufelstritt

© ConAct

Nach dem Abheben des Flugzeugs in Tel Aviv sieht Scha’ul, wie die Orte Or Jehuda, Hiriya und der Westen von Rischon le-Zion in die Ferne rücken. Von oben wirkt alles ähnlich – die Müllberge, die Wohngebiete und die neureichen Villen. Alles ist ihm in gleichem Maße fern. Am Himmel ziehen Wolken auf. Bevor er dazu kommt, Tel Aviv aus dem Flugzeugfenster zu betrachten, erstreckt sich unter ihm schon das Mittelmeer, leise und transparent. Die Ethik der Rückenlehne bleibt ihm ein Rätsel, sodass er den gesamten Flug über aufrecht sitzen bleibt, sich einen amerikanischen Jugendfilm ohne Ton ansieht. Nach einer Stunde wacht er mit Nackenschmerzen und einem bitteren Geschmack im Mund auf. Er bestellt eine Dose lauwarme Cola Zero, leert sie in langen Zügen, wobei ihm auffällt, dass die Rezeptur sich von der israelischen Variante leicht unterscheidet – der künstliche Süßstoff ist deutlich weniger zu schmecken.

„Warum München?“, hatte jeder gefragt. Was hätte er darauf schon entgegnen sollen? Dass er es macht, um nicht aus Versehen zu heiraten und nach Pardes Chana, in das unglaublich langweilige Hippie-Paradies zu ziehen? Dass er das Gefühl hat, dass Tel Aviv ihn erdrückt? Dass er vergessen hat, welche Musik er mag? Was ihn zum Lachen bringt? Und dass ihm, sollte er bei seiner Entlassung aus der Armee oder zu Beginn des B.A.s je Träume gehabt haben – bei seiner Arbeit im Café nicht mal eine schwache Erinnerung daran geblieben war? Dass er das Gefühl hat, in einem Fass schwarzen Kaffees zu ertrinken. Und dass dieser Kaffee immer dickflüssiger wird, desto mehr er darin rührt, die gleichen Leute, die gleichen Gespräche, Jahr für Jahr?

Eigentlich meinten sie: „Aber wieso nicht nach Berlin?“ Und was hätte er darauf antworten können? Dass er nicht schon wieder in „die große Stadt“ will, in der sich angeblich alles und doch nichts ereignet? Dass er Bedenken hat, sich in einer Clique ausgewanderter Israelis wiederzufinden, um sich auch darin zu verlieren? Dass er den möglichen Absturz, d.h. den sicheren, abmildern und in eine verschlafene, sanftere Stadt verlagern will?Dass ihm hier fast nichts geblieben war? Fast, das heißt, außer seiner Schwester, Rona.

Sie hatte darauf bestanden, ihn mit Mann und Sohn zum Flughafen zu eskortieren. Zusammen hatten sie dort, im „Café-Café“ gesessen. Er hatte ein Ziegenkäse-Sandwich und einen großen Americano mit warmer Milch im Kännchen bestellt. Nachdem der Kaffee ein wenig abgekühlt war, hatte der Junge, versehentlich oder auch nicht, das große Glas mit dem Kaffee umgeworfen. Die Hälfte davon war auf den Boden geflossen und sein erschrockener Schwager hatte auf den nassen Stellen Servietten übereinandergeschichtet. Urplötzlich hatte Rona sich auf Scha’ul gestürzt.
„Mein kleiner Bruder“, hatte sie geflüstert, aber er hatte sich gefühlt, als wäre er ihr Sohn. Er war nur vier Jahre jünger als sie. Er vergaß seine Verlegenheit und überließ sich für einen Augenblick ihrer alles verschlingenden Umarmung, roch den Duft des Parfums an ihrem Hals. Er dachte an die Reihe von Frauen, die in den letzten Jahren nacheinander aus seinem Leben verschwunden, in den Abgrund des Vergessens gestoßen worden waren, von der Mutter bis zu den Freundinnen oder dem Schatten der Schatten seiner Freundinnen. Dieses riesige Vakuum füllt der Körper einer hageren Frau aus, die keinesfalls vorhat, ihn in München in Ruhe zu lassen.

**

Nun im Flugzeug steckt er die Hand in seine Hosentasche und umschließt mit festem Griff beide Pässe, den israelischen und den deutschen, und denkt an sein Architektur-Studium, das er bald an der TU München beginnen wird, mit Kindern unter Zwanzig, auf deren Abiturzeugnis die Tinte noch nicht trocken ist und die Italienisch, Spanisch, Deutsch und Englisch als Muttersprache haben. Gebäude. Er wird Gebäude entwerfen. Wird den Horizont mit Gebäuden und auch mit Brücken, Bahnhöfen, Spätverkäufen, Tankstellen, Mülldeponien füllen. Kein Fleckchen Erde wird er unbebaut, frei von Zement lassen.
Ankunft auf dem Münchner Flughafen. Wenig später erblickt er auf dem Bahnhof unverhofft den schlaksigen Steward. Er ist etwa Mitte Vierzig, hat wässrige, tief eingesunkene Augen und ist elegant gekleidet. Bestimmt fährt er in sein Hotel, um morgen wieder an Bord zu gehen.
Der Steward wirkt zugehörig und fremd zugleich. Er strahlt eine Ruhe aus, die für frisch gelandete Touristen untypisch ist, hält jedoch den Griff seines Koffers fest, als befürchte er, ihn zu verlieren.
Scha’ul fragt sich für einen Moment, wie er wohl auf andere wirkt, die ihn anschauen, falls es überhaupt jemanden gibt, der den zwar attraktiven, allerdings durchschnittlich großen Mann in solider Kleidung beäugt?

***

Am Sonntag geht er in die Stadt, steigt an der U-Bahn-Station der Universität aus und wird mit dem Menschenstrom in den Englischen Garten geschwemmt. Die Leute sind auf dem Fahrrad und zu Fuß unterwegs. Sie schleppen volle Kästen mit Augustiner-Bräu. Die gesamte Stadt zirkuliert um den weitgefächerten, wilden Park, ergießt sich mit den Surfern in den Eisbach, dem stürmischen Becken ganz in der Nähe vom Haus der Kunst. München erkennt seinen guten Teil an, feiert ihn. Im Stillen denkt er, wie sehr es sich von Tel Aviv unterscheidet, das dem Strand den Rücken zudreht und wo Stadt und Strand durch die bedrückende Hayarkon-Straße und die Hotel-Promenade voneinander abgeteilt sind. Er streckt sich auf dem Rasen aus, kühlt seine Beine im Bach und erblickt über den Baumwipfeln die beiden runden eigenartigen Türme der Frauenkirche, die ihr den Anschein einer Moschee verleihen, die außer Kontrolle geraten ist.
Am nächsten Tag in der U-Bahn, auf dem Weg zum ersten Studientag begreift er, dass er kaum mit jemandem gesprochen hat, seit er vor einer Woche hier angekommen ist. Nur rein praktische zweckgerichtete Konversation – „Ich hätte gern“, „Darf ich fragen?“ Hier und da ein Kopfnicken oder Stöhnen, Silben und Ansätze von Silben. Er betritt an der Station Sendlinger Tor die öffentliche Toilette, schließt sich in eine Kabine ein und sagt leise einige simple, beängstigend banale Sätze zu sich, nur, um die eigene Stimme zu hören:
„Ich bin Scha’ul.“,
„Wie geht’s?“,
„Gut, danke für das Interesse.“

Als er die Toilette verlässt, rennt er zur U-Bahn, die quietschend hält, steigt ein, ohne auf die Nummer der Linie zu achten und fährt in den Norden der Stadt, in die entgegengesetzte Richtung der Uni. Er versteht, dass er erst an der Station vom Olympischen Dorf in die Linie umsteigen kann, die ihn zurückbringt.

Ihm gegenüber sitzt ein Mann mit markanten Gesichtszügen, hoher Stirn und hellen Augen. Er trägt ein offenes kariertes Flanellhemd, darunter ein weißes Unterhemd und riecht nach Alkohol. In den vergangenen Tagen hat Scha’ul eine neue Variante von Rassismus bei sich ausgemacht – nicht die offensichtliche, hervorstechende Abscheu, die sein Anderssein auslöste, sondern die Schwierigkeit, die Subjektivität des Nicht-Israelischen in seiner Gänze anzuerkennen. Wenn jemand das Café betreten hatte, wo er Barmann gewesen war, hatte er binnen einer Minute über denjenigen etwas in Erfahrung gebracht. Manchmal hatte er einen Gesprächsfetzen oder die Art seines oder ihres Ganges mitbekommen. Manchmal war es ihm geglückt, den keuchenden Jungen zu erkennen, der beim Fußball auf dem Bolzplatz seines Viertels über die eigenen Beine gestolpert war und der sich nun hinter einem Bart und einer modischen Sonnenbrille verbarg und hier – nichts dergleichen. Die Menschen waren für ihn ein unbeschriebenes Blatt, ausgenommen die am Ende der Skala: die auf extrovertierte Weise Präsenz demonstrierten, die die coolen Freaks spielten, wobei sie auch ihre Sonderbarkeiten oder sozialen Schwierigkeiten verrieten – diejenigen konnte er leicht ausmachen.

Auf einmal murmelt der Mann gegenüber in monotonem stetigen Ton etwas auf Bayerisch und lässt sich weder von den Lautsprecheransagen, die im Waggon ertönen noch anderen Geräuschen stören: einem angeregten Gespräch, dem Weinen eines Babys, Musik aus Kopfhörern. Das wiederholte hartnäckige Gemurmel in der fremden Sprache dringt in Scha’uls Ohren wie ein Gebet oder engelhafter Psalm in der Kirche oder auch der Marsch eines Regiments, das in den Krieg zieht.
Auf seinem Smartphone leuchtet eine WhatsApp-Nachricht von Rona auf, die heute natürlich nicht die erste Nachricht von ihr ist: „Scha’uli, wie geht’s? Ich habe gehört, dass es auf dem Düsseldorfer Bahnhof eine Messerattacke gegeben hat. Bist du okay?“
„Düsseldorf ist 600 km von hier entfernt, Rona. Das ist ungefähr so, als würde ich mich wegen des Krieges in Aleppo nach dir erkundigen“, kontert er.
„Okay, ich mache mir einfach Sorgen um dich.“ Um ihn milde zu stimmen, hatte sie das Emoticon eines blauen Herzens hinzugefügt.
Auf die letzte Nachricht geht er nicht ein. Er schließt WhatsApp und schaut bei Tinder vorbei – schiebt Dutzende Bilder nach rechts und links, vor allem nach rechts, um seine Favoriten zu bestätigen – er ist nicht in der luxuriösen Situation, wählerisch zu sein. Plötzlich leuchtet eine Übereinstimmung mit einer Brigitte auf, die 25 Jahre ist und beim Roten Kreuz arbeitet. Er scrollt durch ihre Fotos und stößt auf einen englischsprachigen politischen Aufruf: „From Palestine to Mexico – All Walls Must Fall.“
Mit der läuft’s bestimmt bestens, lächelt er in sich hinein.
„Where are you from?“, erwidert sie auf seine erste Nachricht.
„I am from the Middle East“, schreibt er zurück und ist mit seiner Antwort zufrieden. Der sonderbare Typ setzt sein melodisches Gemurmel hartnäckig fort. Er will bereits zu einer nächsten Bemerkung ausholen, als er zu seinem Erstaunen sieht, dass Brigitte vom Display verschwunden ist. Auf einmal scheint ihm, dass er seine monotone Melodie aus den Deutschstunden an der Tel Aviver Uni hört. Schwarze Milch … wir trinken sie morgens … . Das kann nicht sein, denkt er, das liegt bestimmt am Schlafmangel. Ohne darüber Gewissheit zu haben, steht er auf und steigt zu früh aus. Der Typ drängt sich beim Aussteigen an ihn und Scha’ul drückt ihn, ohne sich etwas anmerken zu lassen, mit der Schulter ein wenig von sich weg.

***

Er ist am Marienplatz. Geht an den Touristenschwärmen vorbei, die sich vor der dummen Uhr des Neuen Rathauses versammeln, das sich als gotisch ausgibt, aber vor weniger als hundert Jahren erbaut wurde. Dann spürt er urplötzlich, wie ihn seine Beine zur Kirche mit dem Dach aus roten Ziegelsteinen tragen. Er steht am Eingang, blickt auf den Teufelstritt im Beton und erinnert sich an die Geschichte der Stadtführerin bei dem Rundgang am Tag nach seiner Ankunft. Das ist der Fußabdruck des Teufels, der mit dem Architekten der Kirche einen Pakt schloss. – Er versprach, das Geld für den Bau unter der Bedingung zu beschaffen, dass sie fensterlos bliebe. Der schlaue Architekt lud den Teufel ein, um die Errichtung des Baus zu verfolgen und sorgte dafür, dass von dem Aussichtspunkt auf den Treppenstufen, wo der Teufel sich niedergelassen hatte, die Fenster nicht zu sehen wären. Scha’ul setzte seinen Fuß in den Betonabdruck. Auch er vermochte nicht die Andeutung eines Fensters zu sehen. Nur die Türme der Kirche ragten über ihm, stachen in den Himmel. In einen Kurs würde er es heute wohl nicht mehr schaffen.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Ulrike Harnisch


Yarden Ben-Zur, 32 Jahre
war 2017 für ein Austauschsemester in München.