Noga Resh / 25 Jahre

Trostpflaster

© Noga Resh

Die Straßen von München sind stabil, sauber und schön. Auch wenn die Fußgängerwege mit  Zigarettenkippen, Schneematsch und aus der Tonne gerutschtem Biomüll verschmutzt sind. Es liegt an der Ruhe. Als würde die Münchner Luft den Lärm verschlucken. Der Erdboden ist mit Wasser gesättigt. Dieser nicht durstige, nicht aufgerissene, nicht versengte Erdboden. Hier ist mir das Gefühl der Stabilität des Erdbodens bewusster. Ich kann es beinahe physisch spüren; der Boden wirkt unbeugsamer. Eindeutiger. Ich schlendere hier im Stillen durch die Straßen. Keiner schreit herum. Keiner redet auf der Straße von seinen Traumata, die ihm von der Armee geblieben sind. Keiner redet auf der Straße über Politik. Die Autodächer sind vom Heck bis zur Motorhaube mit einer dicken Schneedecke überzogen. Selbst die Ränder der Seitenspiegel hüllen sich in Schneehandschuhe. Mir ist kalt. Ich atme halbgefrorene Wolken aus. Keiner schubst mich in der U-Bahn beim Ein- oder Aussteigen. Keiner schreit den Busfahrer an. Keiner schaut mich an.

Nach einem Monat fallen mir die Wochenenden auf. Hier bilden sie ein ununterbrochenes Ganzes. Meine deutschen Freunde gehen vielen Hobbys nach. Sie machen eine Fahrradtour an einen See. Sie tanzen Tango. Treiben Kampfsport. Spielen PlayStation und Brettspiele. Sie klettern auf Berge. Backen und stricken. Mit ihrem Leben scheinen sie im Vergleich zum Leben der anderen Menschen ein separates Dasein zu führen. Es vermittelt das Gefühl einer klaren Grenze. Ein Teil von ihnen sieht die Familie drei- oder viermal im Jahr. Die Mutter einmal in der Woche anzurufen, würde zu weit führen. In Israel sind meine Wochenenden kurz und hastig. Machen mir Stress. Eine Zeit der Erholsamkeit verknüpfe ich damit nicht. Es ist eine Zeit, in der ich die Bedürfnisse anderer zufriedenstelle. Eine Zeit des Lärms. Eine Zeit, an der Zahlreiche teilhaben. Eine Zeit des intensiven Studierens. Der Arbeit. Der Verpflichtung, der Nähe und der Besorgnis. Des Kollektivs. Der vorgezeichneten, verwischten oder durchlässigen Grenzen.

Ich studiere an der Universität München. Im Deutschkurs hören wir bei der Einheit Hörverständnis ein Interview mit einer deutschen Großmutter, die zwölf Kinder hat. Die Großmutter schildert, dass die heutige Generation sie als a-sozial bezeichne. Ich melde mich und frage die Dozentin, warum es als a-sozial gelte, viele Kinder auf die Welt zu bringen. Mir wurde beigebracht, dass es egoistisch sei, keine Kinder auf die Welt zu bringen. Man würde dann nur für sich leben. Das gelte bei uns als a-sozial. Kinder zu haben, würde Freude bedeuten und keine Kinder zu haben, bedeute, nicht das Ziel zu verwirklichen, das Familie und Staat von einem erwarten, zu verwirklichen. Es habe zur Folge, dass „die demografische Bedrohung“ uns alle überrolle. Und welcher Kampf gegen die demografische Bedrohung könne hartnäckiger sein, als zwölf Kinder zu gebären? Es sei a-sozial, erklärt die Dozentin, da so viele Kinder der Gesellschaft eine hohe Belastung aufbürdeten. Die gesamte Gesellschaft müsse für diese Kinder zahlen. Zudem sei es eine hohe Belastung für das Umfeld und den Planeten. Diese ganzen Windeln, die täglich in den Müll geworfen würden. Das sei rücksichtlos. Und die Kinder in der U-Bahn und in den Parks seien hier so leise und rücksichtsvoll und so wenige.

Saad hilft mir bei den Deutsch-Hausaufgaben. Seine Hand schwebt mit dem Bleistift zärtlich über das Papier. Er ist groß, hat große Augen, dicke Wimpern und langes schwarzes Haar. Er war nicht beim Friseur, seit er Syrien verlassen hat. Voller Stolz erzählt er mir, dass einst in der Nähe seines Hauses in Aleppo das jüdische Viertel gewesen sei und die schöne Synagoge heute noch stehe. Er erzählt es mir in sanftem Deutsch, von dessen Existenz ich nicht wusste, bevor ich hierherkam. Es ist das Deutsch kleiner Kinder in der U-Bahn, süßer Frauen und feinfühliger Männer. Von zögerlichen Zuwanderern. Zynisch gratuliert er mir, als Trump Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärt. Für diese Gratulation bin ich die falsche Adresse, sage ich ihm. Ich sage ihm auch, dass mich die Reaktionen darauf traurig stimmen. Dass sie mir mehr Weltschmerz zufügen. Dass die Welt mir weh tut. Zum Glück hält die deutsche Sprache das Wort Weltschmerz dafür bereit. Am letzten Kurstag geht die gesamte Gruppe gemeinsam essen. Keiner außer mir hat Bargeld dabei. Saad sagt lachend: „Völlig klar, dass die Juden welches haben.“ Saad fühle ich mich näher als den anderen Studenten, weil er mich zum Lachen bringt.

In dem Uni-Seminar über Schoah-Literatur bin ich die einzige Ausländerin. Aufmerksam studiere ich die Gesichter der Kursteilnehmer. Bei der Mehrheit der Debatten geht es darum, was passend, würdig, angebracht ist und was nicht. Vor allem, was nicht. So habe ich gelernt, dass es sich nicht gehört, als Nichtjude Literatur über die Schoah zu schreiben. Bist du aber Jude und schreibst grässliche Schoah-Literatur, geht das in Ordnung. Sie versuchen, ihre Ausdrucksweise anzupassen. Wem es erlaubt ist, sich auszudrücken und wem es verboten ist. Nach einigen Stunden fällt mir auf, dass sie auch versuchen, ihre Gefühle und die anderer zu arrangieren. Bist du beispielsweise kein Jude und hast das Gefühl, dich mit Anne Frank identifizieren zu können, ist das nicht in Ordnung. Auch nicht, wenn du dich mit ihrer Liebe, ihrer Menschenliebe identifizierst. Mit ihrer Angst. Ich wollte fragen: „Und wenn ich Jüdin bin und nicht unter der Schoah gelitten habe, darf ich mich mit ihr identifizieren? Und wenn ich eine Jüdin aus Syrien bin?“ Mich interessierten ihre guten Absichten. Und die Maßstäbe, die sie ansetzen. Und ob man Gefühle ersticken kann. Ob man Gefühle überhaupt an etwas „anpassen“ kann. Ich wusste lediglich, dass ich in diesem Kurs die Jüdin war. Und als Jüdin durfte ich das. Ich spürte das Privileg des Opfers, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es empfinden könnte.

Nach der Stunde fragt Alex mich: „Was ich schon immer wissen wollte: Habt ihr dort im Nahen Osten Redefreiheit ?“ Dabei stellt er diese Frage nicht wirklich und will es auch nicht wirklich wissen. Vielmehr beginnt er über meine Region und mein Land zu dozieren. Er fragt: „Ist es bei euch erlaubt, in den Zeitungen die Regierung zu kritisieren?“ Und ich antworte: „Ja, klar.“ Daraufhin sagt er: „Aber über Netanyahu darf man nichts Schlimmes schreiben“. Da frage ich: „Wer hat das gesagt?“ Er stellt weiterhin seine Fragen, die er prompt selbst beantwortet, ohne sich meine Kommentare anzuhören. Er will mir erklären, was Redefreiheit und Demokratie bedeuten. Ich verkörpere für ihn eine dunkelhäutige unterdrückte Frau aus einem heißen Unterdrückerstaat. Am Tag darauf fragt er die Jordanierin, die beim Mittagessen neben ihm sitzt: „Wie sind die Beziehungen zwischen Jordanien und Israel?“ Sie sagt zu ihm: „Lass uns später darüber reden.“ Daraufhin hakt er laut nach: „Wieso?“ Und sie deutet mit einer Kinnbewegung auf mich. Ich sitze am Ende des Tisches. Sie bemerken nicht, dass ich ganz Ohr bin. Er akzeptiert den Aufschub. Sie hüllen sich in Schweigen. Ich bin im freien Europa, umgeben von den Werten der Redefreiheit und vorbildlicher Demokratie und dem Unvermögen, sich frei zu äußern.

Nach der Operation schleppe ich mich mit den Krücken schwerfällig ins Haus. In meiner Hand steckt die Kanüle. Über einen durchsichtigen Schlauch wird in eine Flasche Körperflüssigkeit abgeleitet. Die Nachbarin aus der obersten Etage kommt herunter und sieht mich an. Ich bin sehr langsam und habe enorme Schmerzen. Bei jedem Schritt gebe ich mir äußerste Mühe, keinen Lärm zu machen. Ich habe Angst, sie zu stören. In Deutschland habe ich immer Angst, zu viel Raum einzunehmen. Ich will nicht die Ausländerin sein, die noch dazu frech ist. Und ich habe bereits gelernt, was Zorn erregt: Wenn man in der U-Bahn langsam ist, sich zögerlich bewegt, am Sonntag Flaschen in den Glascontainer wirft, als Fußgänger den Fahrradweg betritt. Aber die deutsche Nachbarin, die so alt wie meine Großmutter scheint, spricht mit hoher Stimme, in der Mitleid schwingt. Ich mag diese Stimmlage, in der meine Mutter mit mir spricht, wenn ich krank bin und mir beistehen will. Obwohl ich nicht die Hälfte von den Worten dieser Frau verstehe und sie versteht, dass ich sie nicht verstehe, fährt sie fort in diesem sanften Deutsch der Kinder, der süßen Frauen und feinfühligen Männer, als wüsste sie, dass sanfte Worte, auch wenn sie unverständlich sind, mich mehr als alles andere trösten. Am nächsten Tag wartet vor der Wohnungstür ein Geschenk auf mich: ein Buch, Schokolade und eine Glückwunschkarte. „Ein Trostpflaster für die Kniepatientin“, hat sie geschrieben. Manchmal berühren mich die deutschen Wortzusammensetzungen. Auf eigenartige Weise. Ich übersetze sie im Stillen in ein Hebräisch meiner Phantasie und sage sie mir immer wieder.

Markus und Saad besuchen mich nach der Operation. Wir spielen Risiko. Auf Hebräisch nennt man es sikun, Gefährdung. Das ist ein Brettspiel. Auf dem Spielbrett sind die Länder der alten Welt abgebildet. Es stehen Soldaten, Pferde und Kanonen zur Verfügung. Man muss die Welt erobern. Der Eroberer gewinnt. Jedes Mal, wenn wir es spielen, hören wir Rammstein, damit wir in eine aggressive Stimmung kommen. Wir spielen es, um einander von einem sicheren Ort zu vertreiben. Um zu lachen und den ganzen Zorn herauszulassen, den wir auf andere und uns selbst haben und um den Schmerz loszuwerden, den uns andere und wir selbst zugefügt haben. Inzwischen ist es ein Ritual. Jeder stülpt sich seinen stereotypen Charakter über. Markus spricht im „Hitler-Dialekt.“ Er brüllt: „Nein!“ wie die Nazis in den Schwarz-Weiß-Filmen, die wir in der Schule im Geschichtsunterricht sahen. Das amüsiert mich. Er besiegt uns immer. Wenn er ein Land von mir erobert, raunt er in kehligem schwerfälligen Deutsch: „Diese ganzen Minderwertigen gehören in Lager!“ Er konzentriert all meine Soldaten an einem Ort. Saad und ich streiten uns stets um den Nahen Osten. Und wir nehmen es sehr ernst. Des Spiels wegen. Vielleicht verlieren wir deshalb immer. In dem Spiel ist der ganze Nahen Osten ein Land, ein großes Land, das alt ist und dessen Grenzen nicht klar umrissen sind. Gen Ende des Spiels, wenn klar ist, dass Markus gewinnen wird, sagt Saad, dass er nun alles riskiert, sein Leben riskiert. Er unternimmt verschiedene Manöver, damit Markus so viele Soldaten wie möglich einbüßt. Das hilft nur wenig. Auch meine Tricks bringen nichts. Markus siegt und die Musik geht über in ruhige arabische Lieder, wir kühlen uns ab und werden wieder normal. Die anderen rauchen Zigaretten. Und wir sprechen über Gott. Wann wir aufgehört haben, an irgendeinen Gott zu glauben und woran das liegt. Das Bild von Jesus mit einer Kippa auf dem Kopf und dem Koran in der Hand, das in der Küche hängt, schillert in bunten Farben.

Saad ist heute aus Dachau zurückgekehrt. Er schilderte mir, dass er dort die Zeugenaussage eines Überlebenden des Lagers gelesen habe, der schrieb, dass die beste Zeit seines Lebens die Zeit im Lager gewesen sei. Dort seien sie alle zusammen gewesen. Dort hätten alle einander verstanden. Und dort habe jede Tätigkeit einen Sinn gehabt. Nach dem Krieg war er durch die Welt gezogen, war ein Gefangener in einer freien Welt gewesen. Er hatte nicht nachvollziehen können, wie die Welt um ihn herum normal weiterlaufen konnte. Keiner war bei ihm und keiner verstand, was er durchmachte. Und er ertappte sich dabei, wie ihn Sehnsucht erfasste. Es mochte sich nicht gehören, Sehnsucht zu haben, aber er hatte eben welche. Und Saad sagte: Ich habe auch Sehnsucht. Vielleicht gehört es sich nicht, Sehnsucht zu haben, aber ich habe welche. In Aleppo waren wir alle zusammen. Wir hatten zusammen Angst, wir wurden zusammen verhaftet, wir sorgten uns zusammen und hörten zusammen von den Bombardements. In München hingegen ist es so still. Und die Bombardements höre nur ich.

Feiner Schneeregen dekoriert das Haar von Saad und Markus. Und auch mein Haar. Weiße Eisblumen nehmen zwischen großen braunen Locken Platz. Die Krücken bieten mir auf dem glatten Fußweg wenig Halt. Aber ich fühle mich festlich und zurechtgemacht. Ich blicke die ganze Zeit nach oben. Wie schön die kahlen Äste sind. Manchmal kommen sie mir wie verlängerte Adern der Baumstämme vor, die sich in Venen verzweigen und in dünne Kapillaren-Verästelungen, die das Blut gen Himmel leiten. Manchmal sehen sie aus wie Nebenarme von Flüssen, die zu kohlrabenschwarzen Rinnsalen werden. Manchmal erscheinen sie wie dünne krumme Finger, die sich nach den Wolken strecken. Am Himmel stöbern.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Ulrike Harnisch


Noga Resh, 25 Jahre
studierte 2017-2018 im Rahmen eines Studentenaustausches zwei Semester an der LMU München.