Bat Chen Shany / 33 Jahre

Drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten

„Drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten“ übermittelte Chagith, die Sprecherin vom Navi. Es war Viertel nach sechs am Freitagmorgen, die Straßen waren leer. Im Radio lief ein ruhiges Lied, dessen Titel ich nicht kannte, aber eine gewisse Sehnsucht, die es in mir weckte, fühlte sich vertraut an. In Gedanken war ich bei dem Telefongespräch vom Vorabend: „Hier ist eine Frau mit einem zweijährigen Jungen. Er wurde bei einer Offensive der syrischen Armee verletzt. Die Frau behauptet, dass Sie sich kennen würden.“ Unweigerlich musste ich an Or denken, deren einjährigen Geburtstag wir erst vor zwei Wochen gefeiert hatten, wobei meine größte Sorge sich darum gedreht hatte, was die Mütter in unserer Kita zu meiner Zwei-Zimmer-Wohnung sagen würden. Seit Or in die Kita gekommen war, hatte ich das Gefühl, dass über mich getuschelt wurde, als wäre ich die einzige Mutter in Jerusalem, die ihr Kind allein großziehen wollte. Nicht dass ich mich an Getuschel stieß, mein ganzes bisheriges Leben hatten Fremde beim Anblick meines Körpers getuschelt, aber gegenüber dem Getuschel der Mütter war ich weniger resistent.

Das Handy klingelte und riss mich aus meinen Gedanken. „Ja, Vati“, antwortete ich. „Bist du sicher, dass ich sie heute in die Kita bringen soll? Ich habe überlegt, ob ich mit ihr auf den Spielplatz im Park gehe, heute ist so ein schöner Tag“, fragte mein Vater. Dabei wusste er genau, dass er mich nicht fragen musste, wenn er mit Or zusammen sein wollte. Mir war klar, dass er mich in ein Gespräch verwickeln und verstehen wollte, wohin ich zu so früher Stunde und ohne Vorwarnung fuhr. Ehrlich gesagt hatte ich nicht darüber nachgedacht, was ich ihm sagen würde, wenn ich mit einer syrischen Frau namens Asima und einem zweijährigen Jungen nach Hause käme.

Es waren fast zehn Jahre vergangen, seit ich Asima das letzte Mal gesehen hatte. Damals lebte ich noch in Berlin. Eine Woche vor meiner Rückkehr nach Israel hatte sie mich überrascht und war für ein Wochenende aus Hamburg gekommen, wo sie ihren Magisterabschluss machte. Asima war eine Freundin von meiner guten Freundin Aischa, die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit. Wir waren uns bei einem ihrer Besuche in Berlin begegnet und fühlten uns sofort verbunden. Wir nannten uns die Middle Western Girls, Aischa war im Irak geboren, Asima in Syrien, wo sie auch aufgewachsen war und ich kam aus Israel. Ich erinnere mich an den Tag, als ich verstand, dass wir jedoch nicht aus dem gleichen Nahen Osten stammten. Es war an einem sonnigen Samstag und wir gingen ins Café Nargila in Neukölln, einer Festung der arabischen Szene von Berlin. Es waren vor allem Männer dort, auch einige arabische Touristinnen, dennoch richteten sich sämtliche Augenpaare auf uns. Aischa und Asima waren erhobenen Hauptes eingetreten. Als wir Platz nahmen, erklärten sie mir, dass die Blicke sich nicht auf uns richteten, weil wir nicht religiös waren, sondern weil sie arabische Frauen waren, die es wagten, in westlicher Kleidung und ohne männliche Begleitung unterwegs zu sein.

Ich erreichte die Raststätte der Nord-Süd-Autobahn. Eigentlich hatte ich keine Pause einlegen wollen. Ohne einen Kaffee und etwas zu essen würde ich den Tag, der mir bevorstand, aber nicht bewältigen. Ich kehrte mit einem Milchkaffee und einem Sandwich ins Auto zurück und beim Blick in den Rückspiegel sah ich den leeren Kindersitz von Or. In Kürze würde dort das Kind einer anderen Frau sitzen. Dieses verängstigte Kind würde die fremde Landschaft betrachten und seine Mutter mit einer ihm unbekannten Frau in einer fremden Sprache sprechen hören. Ich ging noch einmal in den Laden, kaufte einen Lutscher und einen Luftballon und hoffte, es wäre ihm ein kleiner Trost.

Noch 52 Minuten bis zum Ziel. Das Radio begann zu rauschen, weil der Empfang nachließ. In meinen bevorzugten Sender mischten sich arabische Stimmen, automatisch schaltete ich um. Mir fiel die Abscheu auf, die die arabische Sprache bei uns erregte und erinnerte mich prompt an ein Abendessen in Berlin, das Aischa, Asima und ich in meiner Berliner Wohnung zubereitet hatten. Wir hatten damals herzlich gelacht, als wir feststellten, dass beim Essen fast alle Dinge die gleiche Bezeichnung haben. Wie kleine Kinder holten wir Lebensmittel aus dem Küchenschrank, aus dem Kühlschrank, um der Sache auf den Grund zu gehen. „Kusbara, [Koriander], Tchina [Sesammus], Sukar [Zucker]“, rief ich und beide mussten lachen. Am gleichen Abend gingen wir zu einer inoffiziellen japanischen Party, die in irgendeinem Keller in einem alten Gebäude im Osten der Stadt stattfand, an den Wänden liefen Zeichentrickfilme. In der Luft lag ein Gemisch aus Schweiß und Feuchtigkeit, gewürzt mit Wasabi. In einer bestimmten Phase gab Aischa uns zu verstehen, dass sie mit Kito, einem Freund von ihr, die Party verlassen würde. Er hatte zwar einen japanischen Namen, aber er war Brite. An jenem Abend tranken wir derart viel Sake, dass wir auf dem Rückweg glatt unsere U-Bahn-Station verpassten und Hermannplatz ausstiegen, der um drei Uhr nachts fast so belebt war wie um drei Uhr nachmittags. Zum ersten Mal waren wir zwei allein, ohne Aische und es entstand eine andere Energie. Mich plagten Bedenken, um die richtigen Worte verlegen zu sein und so schlug ich vor, einen Döner zu essen. Und tatsächlich: Als wir dann stockbetrunken und mit vollem Magen in der Wohnung ankamen, schliefen wir wortlos ein.

In jener Nacht hatte ich geträumt, dass ich mich mitten in einem Krieg befand. Vor mir war ein hoher Drahtzaun, hinter dem Asima stand und hinter ihr war ebenfalls Krieg. Wir standen auf verschiedenen Seiten des Zauns, sagten nichts, blickten uns lediglich an und dieser Blick sagte alles. An jenem Morgen war ich früh aufgestanden, hatte Kaffee aufgebrüht und war auf den Balkon getreten. Die Straße unter mir war voller Menschen, von denen die meisten keinen Krieg erlebt hatten, die hundertjährigen Gebäude würden mir vielleicht ins Gedächtnis rufen, dass auch diese Stadt einen Kriegsschauplatz in sich barg.

Ich fuhr auf den Parkplatz des „Ziv“-Krankenhauses von Safed und auch hier, wie vor jedem Krankenhaus, das ich bisher aufgesucht hatte, gab es kaum Parkplätze. Dann ging ich zum Sozialdienst der Kinderabteilung, wo ich Irith traf, die Sozialarbeiterin, die mich gestern Abend angerufen hatte.

„Hier gibt es jede Menge eigenartige Geschichten, aber so eine ist mir noch nicht zu Ohren gekommen“, sagte sie, während sie mich in ihr Büro führte. Sie erzählte, dass vor einigen Tagen ein zweijähriger Junge bei ihnen eingeliefert worden sei, der bei einer Offensive verletzt worden war. Er sei in Begleitung seiner Mutter gekommen. Nach der Operation des Kindes hatten sie die beiden nach Syrien zurückschicken wollen, aber die Mutter habe sie angefleht, davon abzulassen und darauf bestanden, eine israelische Frau zu kennen, die für sie bürgen könne. „Wie heißt der Junge?“, fragte ich sie, als wir ihr Büro verließen. „Nur“, erwiderte sie. Ich wurde still. Vom Korridorende erblickte ich den Rücken einer Frau. Sie hatte ihr Haar locker hochgesteckt, war über einen kleinen Rollstuhl gebeugt. Darin saß ein Junge, der eine Wollmütze trug. In seinem Blick lag etwas Vertrautes.

Schweigend stiegen wir ins Auto, Asima schnallte den Jungen auf dem Kindersitz an, ich nahm den Lutscher aus meiner Tasche und gab ihn Nur. „Drei Stunden und zweiunddreißig Minuten“ übermittelte Chagith und wir fuhren los.


Bat Chen Shany, 33 Jahre
absolvierte 2010/2011 einen Freiwilligendienst in Deutschland. Sie lebte zu der Zeit in Berlin und engagierte sich an einer Schule und in einem Verein. Nach ihrer Rückkehr nach Israel studierte sie Soziale Arbeit und arbeitet heute im Bereich der Psychotherapie mit Kinderkartengindern in Jerusalem.