Franziska de Vries / 20 Jahre

Himmelblau

Himmelblau. Blauer Himmel. Er erstrahlte voller Ruhe und hatte zugleich etwas Saftiges.  Schaute man hinauf, versank man darin, in einer unglaublichen, fröhlichen Tiefe. Ein ganz sanfter, babyblauer, ja nahezu beruhigender Ton. Für sie war der Himmel das ganze Jahr blau gewesen. Nur zwischendurch ein bisschen Regen, aber den hatte sie schnell wieder vergessen. Sonst hatte sie immer gute Laune gehabt. Wieso hätte sie das auch nicht haben sollen, wenn keine einzige Wolke die Perfektion der so glatt scheinenden Oberfläche gestört hatte? Von der Terrasse des großen Hauses am Hang hatte sie den Himmel am besten beobachten können. Denn in Jerusalem war er immer besonders blau gewesen. Sogar nachts, wenn dieses wunderschöne Himmelblau auf einem ganz anderen Teil der Erde zu sehen war und sie davon überhaupt nichts mitbekam, sogar nachts träumte sie von diesem Gefühl. Es war etwas, was sie umgab, fast umhüllte, ganz leicht und unbemerkt kam es über sie. Aber immer nur, wenn der Himmel blau war.

Himmelblau. Blauer Himmel.

Schon am Flughafen in Deutschland, als sie sich etwas unbeholfen von ihrer Familie verabschiedete, hatte sie das Gefühl gehabt, dieses Jahr würde sie verändern. Etwas Einschneidendes würde ihr widerfahren. Etwas, von dem sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass es sie komplett aus der Bahn werfen würde. Die ersten Tage waren gefüllt von Unbehagen und Glückseligkeit. Der blaue Himmel beruhigte sie, wenn die durchdringenden Blicke der fremden Menschen ihren hochroten Kopf fixierten und sich über ihr strohblondes Haar wunderten. Von bestimmten Menschen konnte sie ihre Blicke nicht abwenden. Und das hatte nichts mit deren Haarfarbe zu tun – obwohl sie dunkelhaarige Typen schon irgendwie attraktiv fand. Skurril, dass sie sich noch mehr zu ihnen hingezogen fühlte, wenn sie mit einem riesigen, furchteinflößenden Maschinengewehr durch die Gegend rannten. Olivgrüne Uniformen, Springerstiefel in schwarz oder rot, ein massives Maschinengewehr um die Schultern und dieser müde, aber doch wachsame Blick. Willkommen in Israel.

Alles war überwältigend und überfordert war sie sowieso. Ihre Arbeit machte ihr großen Spaß, trotz der ständigen Verzweiflung, weil die Leute sie nicht verstanden und Reden mit Händen und Füßen eine ziemlich sportliche Angelegenheit ist. Nach einigen Wochen brachte sie die ersten Sätze zustande, Hebräisch klang nicht mehr ganz so befremdlich. Als sie das erste Mal lesen konnte, wohin der grüne Reisebus fuhr, der an der Haltestelle hielt, machte sie einen Freudensprung.

Die Annäherung an die israelischen Jugendlichen, die mit ihr zusammen arbeiteten, ging nur langsam voran. Obwohl beide Seiten, junge Deutsche und junge Israelis, mit der Shoa so direkt überhaupt nichts zu tun hatten, dauerte es eine Weile, bis der erste Judenwitz gerissen wurde. Doch als sich der erste Israeli traute zu fragen, was der Unterschied zwischen Harry Potter und einem Juden sei, war das Eis gebrochen. Auf die Antwort, Harry Potter hätte es aus der Kammer raus geschafft, kam zwar erst nur verunsichertes Gelächter der Deutschen. Doch von da an scheute sich keiner der Israelis zu fragen, was denn die Urgroßeltern vor und während des zweiten Weltkrieges eigentlich gemacht und was die Großeltern denn darüber so gedacht hätten. Obwohl ja für jeden klar war, dass die deutschen Jugendlichen jetzt nicht nach Israel gekommen waren, um sich für die Vergangenheitsbewältigung einzusetzen.

Jener Israeli, der sich als erster getraut hatte, die Kommunikation zwischen den Freiwilligen etwas makaber anzukurbeln, hatte dunkle, wuschelige Haare und war dünn wie eine Spaghetti. Viele hielten ihn für einen Araber, schließlich war er außergewöhnlich dunkel, doch er bezeichnete sich voller Stolz als einen ungläubigen Juden aus dem heiligen Jerusalem. Aus dem Jerushaleim Shel Zahav, genauer gesagt. Er hatte braune, leuchtende Augen, die mit ihren dunkelgrünen Sprenkeln Fröhlichkeit versprühten und denen sie sofort vertraute. Von Anfang an war eine Verbindung zwischen ihnen da gewesen. Sie hatte keine Hemmungen, mit ihm über alles Mögliche zu quatschen, obwohl sie ihm eindeutig mehr über ihr Leben erzählte, als er ihr über seins. Sie redeten viel über das, was nach dem Jahr kommen würde. Armee, Studium, irgendwas, was niemand einschätzen konnte. Armee. Ein komisches Wort. Ein Wort, was für sie in undeutlicher Ferne herumschwebte, womit sie nichts verband und auch nichts verbinden wollte. Für ihn Realität, eine nahe Zukunft, trotzdem verschwommen, ein Wort, was viele Diskussionen und Fragen entfachte. Er erzählte ihr von seiner Kindheit, mit dem Wissen aufzuwachsen, irgendwann mal für sein Land zu kämpfen, sich für den Frieden einzusetzen, obwohl sie das mit dem Frieden eher nicht so richtig verstand. Frieden durch Waffen. Ein Thema, womit sie noch lange zu kämpfen hatte. Aber sie war ja auch nicht gegen die Armee. Dafür war sie aber auch nicht. Und eine Lösung hatte sowieso niemand.

Er war patriotisch. Was sollen wir denn ohne eine Armee machen?, hatte er gesagt. Nachvollziehen konnte sie es schon, es stimmte, was machte Israel ohne eine Armee, aber junge Leute mit Maschinengewehren, das fand sie immer noch befremdlich. Da konnte sie einfach nicht anders, sie musste die Soldaten anstarren wie eine Bescheuerte. Am Jom haAtzma´ut, dem israelischen Unabhängigkeitstag, fuhr sie mit ihren blonden, deutschen Freundinnen in eine Base, nach Ramat David, ausgestattet mit einer Israel-Flagge und ganz viel Nationalstolz. Schließlich fühlte sie sich nun in Israel wie Zuhause. In der Base kam sie sich vor wie auf einem Jahrmarkt, Menschen mit lachenden Kindern, manche sogar noch im Kinderwagen, Zuckerwatte und patriotische Lieder, Fliegershows über den Köpfen und fröhliche Menschen, die für das alljährliche Erinnerungsfoto mit einem Soldaten posierten. Und es schien für alle normal zu sein, sich die Panzer und Bomben in verschiedensten Ausführungen anzuschauen. Sie wollte mehr erfahren, sie war neugierig und scheute sich nicht, doch auf ihre Fragen bekam sie meist keine richtige Antwort. Keiner durfte ihr verraten, was oder gar wer denn mit den kleinen und großen Geschossen abgeschossen wurde, das war ja fast wie ein Staatsgeheimnis. Darüber sprach sie mit ihm, obwohl sie das ganze ziemlich skurril fand, lachte sie ein bisschen, als sie ihm alles erzählte, doch er antwortete nur mit ernster Miene, so sei es halt in Israel, mit den Auseinandersetzungen und mit der Armee müsse man halt leben.

Sie waren sich sehr nah, doch zugeben, dass sie ihn toll fand, das konnte oder wollte sie nicht. Er schien da irgendwie ein bisschen direkter zu sein, irgendwann küsste er sie einfach und für ihn schien die Sache damit geregelt zu sein. Ihr fiel es schwer, sich auf sowas einzulassen, schließlich war sie ja nur für ein Jahr nach Israel gekommen. Auf jeden Fall war sie hoffnungslos verliebt, das erste Mal so richtig, und dann auch noch in einen ungläubigen Juden, der manchmal doppelt kontrolliert wurde, weil er aussah wie ein Araber.

Irgendwann nahm er sie über das Wochenende mit zu seiner Familie. Auf der ganzen zweieinhalbstündigen Busfahrt nach Jerusalem hielt sie seine Hand. Sie war glücklich. Der blaue, wolkenlose Himmel zog an ihnen vorbei und sie beobachtete die Soldaten, die mit ihren massiven Springerstiefeln erschöpft auf den Sitzen hockten, sich freuend, nach einer anstrengenden Zeit nach Hause zu kommen. Er erklärte ihr die verschiedenen Bedeutungen der unterschiedlichen Uniformen und erzählte ihr, dass es zum Shabbat-Essen vielleicht sogar Schwein geben würde. Schließlich würde seine Familie das Ganze mit dem Glauben nicht so ernst nehmen. Er wohnte in einem riesigen Haus am Hang, von dem man die Mauer, die Israel und Palästina trennte, sehen konnte. Alle freuten sich, dass er ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte, vor allem, weil er der einzige Junge umgeben von älteren Schwestern war. Extra für sie, das christliche Mädchen aus Deutschland, feierten sie ein traditionelles Shabbat-Essen mit Shabbat-Kerzen, koscherem Wein, Challa und Salz, aber dann gab es tatsächlich Schwein und die Mutter scherzte, jetzt kämen sie alle in die Hölle.

So glücklich war sie noch nie gewesen. Unbeschwert genoss sie die Zeit, nur er zählte. Sie vergaß, dass es schon fast Mai war, ihre Zeit in Israel allmählich zu Ende ging. Sie konnte ja auch einfach länger bleiben, zurück ins langweilige, düstere, graue und verregnete Deutschland wollte sie sowieso nicht. Sie realisierte nicht, dass er ihr nur wenig über sich erzählte, er allerdings wusste alles über sie. Er war ein ruhiger Zuhörer, er nahm sie in den Arm, wenn sie es brauchte und brachte sie zum Lachen. Sie merkte nicht, dass er immer stiller wurde. Das Leuchten in seinen Augen verschwand. Und vielleicht war es auch irgendwann einfach zu spät.

Es war ein wunderschöner Tag. Sie war auf dem Weg nach Jerusalem, die dunkelgrünen Fichten in den Vororten stachen vor dem hellblauen, wolkenlosen Himmel hervor. Zur Begrüßung nahm er sie in den Arm, fester als sonst, anders. Anders, weil seine Augen von traurigen Schatten umgeben waren. Anders, weil sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Doch sie traute sich nicht, ihn zu fragen. Seine Familie freute sich, sie zu sehen, die Eltern hatten fürs Abendessen groß gekocht. Der Rest der Familie war auch da, sie hatte alle schon kennen gelernt, Onkel, Tanten und Großeltern. Sie war glücklich. Nach dem Essen schliefen sie miteinander, wie immer, er war zärtlich und nichts war anders.

Am nächsten Morgen wachte sie auf. Er saß auf seinem Schreibtischstuhl und starrte sie an. „Ich bin bei den Submarines aufgenommen worden“, sagte er. „Da bin ich dann vier Jahre mindestens. Vielleicht auch länger, denn ich muss mein Land beschützen“. Er schaute ihr direkt in die Augen. „Ich bin stolz darauf“, meinte er. „Ich kann das mit dir nicht mehr. Schließlich musst du nach Deutschland zurück. Und ich bleibe hier“, sagte er. Sie ging. Sie ist gegangen, ohne etwas zu erwidern, ohne sich von seiner Familie zu verabschieden, die ja auch irgendwie ihre geworden war.

Seitdem war sie nie wieder in der goldenen Stadt. Seitdem sieht sie das Blau nicht mehr. Einfach weg. Nichts mehr mit Himmelblau oder blauem Himmel. Jetzt fließt nur noch der Regen.

Himmelblau. Blauer Himmel. Er erstrahlte voller Ruhe und hatte zugleich etwas Saftiges. Schaute man hinauf, versank man darin, in einer unglaublichen, fröhlichen Tiefe. Ein ganz sanfter, babyblauer, ja nahezu beruhigender Ton. Für sie war der Himmel das ganze Jahr blau gewesen. Jetzt fließt nur noch der Regen. Von der Terrasse des großen Hauses am Hang hatte sie den Himmel am besten beobachten können. Denn in Jerusalem war er immer besonders blau gewesen. Sogar nachts, wenn dieses wunderschöne Himmelblau auf einem ganz anderen Teil der Erde zu sehen war und sie davon überhaupt nichts mitbekam, sogar nachts hatte sie von diesem Gefühl geträumt. Es war etwas, was sie umgeben hatte, fast umhüllte, ganz leicht und unbemerkt war es über sie gekommen. Aber immer nur, wenn der Himmel blau gewesen war.

Himmelblau. Blauer Himmel.

Jetzt fließt nur noch der Regen.


Franziska de Vries, 20 Jahre
absolvierte 2016/2017 ein Freiwilliges Soziales Jahr in Kfar Tikva, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Derzeit studiert sie Kunstgeschichte, Anglistik und Theaterpädagogik.