Nirit Neeman / 36 Jahre

Als Opa in meinem Alter war

Einmal bekam ich eine Aufgabe: Ich sollte nachdenken über eine Person in meiner Familie, die für mich die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiert. Ich wurde gefragt, wer und wo diese Person war, als sie in meinem Alter war. Natürlich habe ich sofort an meinen Opa denken müssen. Als mein Opa 30 Jahre alt war, war er familienlos, heimatlos, gezeichnet vom Krieg und traurig. Er war Witwer und ein hinterbliebener Vater, Bruder, Onkel und Sohn. Er war ein Häftling in Buchenwald. Als ich in 1981 geboren wurde, war mein Opa 64 Jahre alt. Er war ein Rentner in Israel. Er hatte wieder eine Familie und ein Heim, Freiheit und Fröhlichkeit hat er seit dem Krieg nicht wiedergefunden.

Diese Aufgabe bekam ich während eines Seminars, als ich in 2010/2011 ein Jahr lang einen Freiwilligendienst in Berlin mit Aktion Sühnezeichen Friedendienste machte. Die Arbeit mit Aktion Sühnezeichen Friedendienste beschäftigt sich mit Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit der Frage, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. Als Freiwillige arbeitete ich täglich in einer Jugendeinrichtung in Südwest Berlin und nahm an verschiedenen Seminaren teil. Ich wohnte in einer WG in Schöneberg und ging in meiner Freizeit zur Sprachschule.

Nach etwa der Hälfte meines Freiwilligendienstes wurde ich eingeladen, an einer Konferenz von Aktion Sühnezeichen Friedendienste, die im Frühling 2011 in Berlin stattfinden sollte, als Referentin teilzunehmen. Die Organisatorin der Konferenz hatte ich ein paar Monate eher bei einer Veranstaltung der Organisation kennengelernt. Was sie mir damals erzählt hat, weiß ich nicht mehr, aber sie dachte, ich könnte meine Familiengeschichte erzählen.

Der Schwerpunkt der Konferenz war „Fremde Heimat? Geschicte(n) von Flucht und Migration“ und ich wurde gebeten, in dem Workshop „(Ver-)schweigen als Erzählen“ mitzumachen. Es sollte ein kleiner Workshop sein, mit circa 20 Teilnehmenden, der das Thema „Tradierte Geschichte“ und dem Schweigen der Täter und Opfer durch biografische Arbeit zum Inhalt hatte. Ich sollte eine kurze Präsentation über meine Erfahrung als Enkelin eines Holocaustüberlebenden vorbereiten.

Von der Einladung war ich überrascht und begeistert. Verängstigt war ich auch. In einem Forum wie diesem hatte ich noch keine Erfahrung. Was ich erzählen wollte, war mir aber sofort deutlich. Die Aufgabe, die ich schon früher in einem Seminar in Deutschland bekommen hatte, ist mir wieder eingefallen. Und mit dieser Frage als Anstoß fing ich an, die Geschichte meines Opas in Kombination mit meiner eigenen aufzuschreiben.

Mein Opa ist 1915 geboren. Er ist in Bodzanow, einem kleinen Dorf im Zentrum von Polen, aufgewachsen. 1917 ist sein Vater an einer Krankheit gestorben. Somit ist mein Opa mit seiner Mutter, seinem älteren Bruder und drei Schwestern aufgewachsen. Als kleines Kind hat er in einer Cheder, eine jüdische Schule, gelernt. Von seinem 7. bis zum 14. Lebensjahr lernte er an einer öffentlichen Schule. Danach hat er als Glashersteller gearbeitet – zusammen mit seinem Schwager.

Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist, war mein Opa 24 Jahre alt. Er war verheiratet mit einer jüdischen Frau und sie hatten zusammen eine dreijährige Tochter. Die zweite Tochter ist bereits während des Krieges geboren. Zuerst musste mein Opa für die Deutschen arbeiten, die in der Nähe wohnten.

Am 3. März 1941 wurden alle Juden von Budzanow in das Ghetto von Censtechov geschickt. Im Herbst 1942 wurde das Ghetto teilweise geräumt. Die Familie meines Opas wurde nach Treblinka deportiert. Dort wurden seine Mutter, seine Frau, seine Töchter, Schwestern, Neffen und Nichten ermordet.

Mein Opa blieb bis zum Januar 1945 im Ghetto, weil er ein junger, arbeitskräftiger Mann war. Dann wurde mein Opa nach Buchenwald geschickt. Er wurde bis April 1945 in Buchenwald inhaftiert. Am 9. April 1945 wurden die Deutschen aus dem Lager abgezogen. Mein Opa konnte sich unter toten Menschen verstecken. Zweite Tage lag er dort – halluzinierend und krank.

Am 11. April 1945 trafen amerikanische Soldaten in dem Lager ein. Nach der Befreiung verbündete sich mein Opa mit einer zionistischen Gruppe in Erfurt. Er floh im September 1945 nach Israel. 1946 heiratete er dort meine Oma. Meine Oma wurde auch in Polen geboren. 1935 floh sie alleine nach Israel. Ihre Familie blieb in Polen und wurde erst später in das Warschauer Ghetto deportiert. Dort wurde die komplette Familie meiner Oma ermordet.

Nach der Hochzeit ist mein Opa in das Dorf, in dem meine Oma bereits lebte, gezogen. 1948 wurde ihr erstes Kind geboren, mein Onkel. 1951 wurde das zweite Kind geboren, meine Mutter. Sie gaben ihr den Namen Nechama: nach ihrer Oma, die nach Warschauer Ghetto deportiert wurde. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete mein Opa als Briefträger. Die Familie wohnte weiter in dem Dorf, das langsam zu einer kleinen Stadt wuchs. Nachdem mein Vater meine Mutter geheiratet hatte, zog er auch dorthin. In einem Haus mit meinen Eltern und Großeltern sind meine Schwestern und ich aufgewachsen.

Mein Opa ist mit 89 Jahren in Israel gestorben.

Der Begriff „Holocaust“, war mir schon sehr früh bekannt. Seit ich mich erinnern kann, wusste ich, dass es einen Krieg gab, in dem unsere Familie gestorben ist. Ich wusste auch immer, was „Tod“ ist. Schon mit vier Jahren wusste ich, dass Opa in Buchenwald war und mit sechs Jahren erfuhr ich, dass meine Familie nach Treblinka deportiert wurde. Obwohl ich mit meinen Eltern, Schwestern, Großeltern und allen anderen Verwandten aufgewachsen bin, lebten die Toten auch in meinem Leben weiter. Und mit mir leben die Erinnerungen an den Krieg auch weiter. Die Geschichte, der Krieg und der Holocaust, waren immer ein Teil von meinem Alltag.

Oft erzählte mein Opa spontan über den Krieg. Einfache Alltagssituationen lassen Erinnerungen wach werden. Einmal kam er vom Markt zurück. Er kaufte dort Eier. Er erzählte, dass er am Anfang des Krieges Eier bei polnischen Bauern sammeln musste – als Zwangsarbeit für die Deutschen. Ein anderes Mal aßen wir zusammen. Plötzlich sagte er, dass er kein Essen in Buchenwald hatte. Wenn mein Opa über seine Familie erzählte, war das Ende der Geschichte immer ein trauriges Schweigen.

Manche Geschichten erzählte er immer wieder. Er hatte eine Narbe auf der Stirn. Ein Soldat in Buchenwald hat ihn mit einem Gewehr geschlagen. Er hat niemals erzählt, warum er geschlagen wurde. Ich fragte auch nicht. Aus Angst, dass er noch trauriger werden würde. Ich hatte oft viele Fragen, die ich nicht stellen konnte, da der Tagesablauf sowieso schon sehr traurig war.

Mit sechs Jahren bin ich in die Schule gekommen. Dort habe ich Lesen gelernt und konnte seitdem alleine zusätzliche Informationen recherchieren. Das Thema Holocaust wurde in der Schule intensiv unterrichtet und auch oft im Fernsehen und in Zeitungen thematisiert. Ich habe immer versucht, meine persönliche Familiengeschichte in der allgemeinen historischen Geschichte wiederzufinden.

Jetzt als Erwachsene versuche ich, nicht nur die Geschichte, sondern auch den Einfluss des Holocausts auf mein Leben und den Einfluss auf die heutige Gesellschaft zu lernen. Ich habe Geschichte studiert und arbeite im Bildungsbereich. Da der Holocaust ein Schwerpunkt meines Interesses ist, bin ich nach Deutschland gekommen. Während meines Freiwilligendienstes durfte ich auch im pädagogischen Bereich arbeiten.

Oft wurde ich in alltäglichen Situationen, zum Beispiel wenn ich Leute auf einer Party kennenlernte, von Deutschen gefragt, was meine Familie davon hält, dass ich in Deutschland bin. Ich konnte nur erzählen, was meine lebende Familie fand. Ich habe ehrlich geantwortet und gesagt, dass meine Familie davon nicht begeistert ist. Und für mich ist es auch kompliziert. Diese Antwort wollte oder konnte man oft nicht annehmen. Wahrscheinlich war es auch nicht die normale Antwort.

Und was hätte mein Opa davon gehalten? Wegen dieser Frage war meine Zeit in Deutschland noch komplizierter. Erfolge verwirrten mich. Die Sprache zu beherrschen, Freunde kennenzulernen, unbekannte Orte zu entdecken, jede neue Erfahrung wurde irgendwie mit Zweifel bedeckt. Schwierigkeiten, an der andere Seite, hätten mehr Sinn gemacht: traurig durfte ich immer sein. Diese Gefühle konnte man aber nicht verstehen.

Im Mai 2011 nahm ich an der Konferenz in Berlin teil. In einem großen Seminarraum saß ein ruhiger Kreis von zwanzig fremden Menschen. Die Mehrheit der Menschen sprach Deutsch als Muttersprache. Ich habe meine Geschichte auf Deutsch vorgestellt. Um abzuschließen, erzählte ich, dass ich oft gehört habe, wenn ich das Thema Zweiter Weltkrieg in Deutschland diskutierte, dass der Krieg schon lang vorbei ist. Ich habe verstanden, dass es schon gewöhnlich ist zu denken, dass in Deutschland die Konsequenzen auch nicht mehr aktuell sind.

Nach dem Workshop sind viele, die vorher in dem ruhigen Kreis saßen, auf mich zugekommen. Es war ein seltener Moment, in dem ich mich gesehen fühlte.


Nirit Neeman, 36 Jahre
absolvierte 2010/2011 einen einjährigen Freiwilligendienst in Berlin. Heute arbeitet sie als Geschichtslehrerin in Israel.