Asaf Erlich / 29 Jahre

Häftling Nr. 116859

Alles fing mit einer Postkarte an.

2013: Ich und mein Vater hatten fünf Monate lang nicht geredet. Er mochte es nicht, dass ich nach Deutschland umziehen werde. Ein halbes Jahr nach der Abreise war ich auf Heimatbesuch in Israel. Ich erzählte von einem kurzem Interview im deutschen Bundestag. Es ging über meinen Familienbezug zum Holocaust. Ich erklärte im Interview, dass mein Opa auf mich heute stolz gewesen wäre, weil ich als Israeli im Deutschen Bundestag stehe. Als mein Papa das erfuhr, erwiderte er: „Dein Opa würde viele Sachen diesbezüglich fühlen, stolz wäre er aber auf dich keines falls gewesen.“ Von diesem Gespräch erzählte ich im Rahmen eines Vortrages bei einem Kongress zur Erinnerung des Holocausts. „In unserer Familie ist alles Deutsche streng verboten“, sagte ich. Ich schilderte die Probleme meines Vaters bezüglich des Umgangs mit allen Themen, die den Holocaust betreffen und damit vor allem auch meinen Aufenthalt in Deutschland.

Eine Woche nach diesem Kongress saß ich im Büro des ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch, wo ich da als Freiwilliger arbeitete. Wir waren in unserer Mittagspause.

„Was weißt du über deinen Opa?“, fragte ein Kollege. „Sehr wenig.“, antwortete ich.
„Mein Vater weigert sich zu fragen und mein Opa weigerte sich, darüber zureden. Ich habe aber eine Postkarte vor meiner Abreise bekommen, auf der Rückseite steht Buchenwald und eine Anrede an meinen Opa. Mehr habe ich nicht.“
Die Chefin unterbrach das Gespräch: „Weißt du, dass wir dir damit helfen können?“
Ich musste nicht antworten und ein paar Minuten danach war schon ein E-Mail an die Gedenkstätte Buchenwald geschickt worden und eine Anreise vereinbart.

Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Es gab einen Grund, warum darüber innerhalb der Familie nicht gesprochen wurde. Im Krieg wurden gemordet und diejenigen, die überlebt haben, haben durch ihr Trauma einen großen Schatten über diejenigen gelegt, die nicht da waren.

Ich stand am Eingang der Gedenkstätte und sehe dasselbe Bild wie auf Opas Postkarte. Am Eingang der Gedenkstätte stand eine FSJlerin, wie ich, und sie begleitete mich durch die Gedenkstätte. Wir sind langsam durch das schreckliche Erbe der Vergangenheit spaziert und mir wurde von dem brutalen, unfassbaren Leben der Häftlinge erzählt. Wir näherten uns einem zerstörten Gebäude. „Dein Opa war hier platziert“, sagte sie. „Er ist Ende 1944 hierher gekommen. Das hier war seine Kaserne“. Ich starrte auf den armen Holzhaufen vor mir. Sie schaute mich an und fragte: „Mir wurde gesagt, dass du vielleicht weinen wirst. Bist du okay?“ Ich ließ einen riesigen Lacher los, was auf sie ein bisschen befremdlich wirkte. „Wir Erlichs sind große Zyniker. Wir schlucken Sachen runter und lachen darüber.  Haß und Weinen überlassen wir den Therapeuten.“

Später gingen wir ins Archiv und da erfuhr ich die wahre Geschichte über meinen Opa. Ich schaute die Dokumente an, die mir vom Archivmitarbeiter gegeben wurden. Ich konnte ein kleines Lächeln auf meinem Gesicht nicht verbergen, als mir jahrzehntealte Fragen vor meinen Augen beantwortet wurden: „…Mosze Erlich Häftling Nr. 116859…“. „… Pole, Jude, Kommunist!?..“. „Es steht hier das er Kommunist war! „- „Es kann sein, dass es nicht stimmt. Das bedeutet wenig“, sagte die Archivistin. „… Er hatte ein Kind, und war schon verheiratet…“. „… Er war Kutscher und Heizer…“. „Das hat wahrscheinlich sein Leben gerettet. Er war für die Kriegsindustrie nützlich“. „… Wow..“, erwiderte ich. In dem Moment fühlte ich mich nah zu einer Person, die ich nie kennengelernt habe. Ich bedankte mich bei  allen im Raum herzlich und verabschiedete mich.

Durch die Dokumente der Gedenkstätte konnte ich die Geschichte eines Mensch rekonstruieren, der starb,  als ich 4 Jahre alt war. In der folgenden Nacht rief ich meinen Vater an und da konnten wir unser Wissen über Häftling 116856 vergleichen. Dann lag vor uns seine Geschichte:

Mosze (Mosche) Erlich ist in Zwolen, Polen 1905 geboren. Anfang des Krieges wurde er ins Polnische Heer einberufen und ist schnell in deutsche Gefangenschaft geraten. Er wurde zum Lager neben seiner Heimatstadt gebracht, wo er Dienst in der HASAG Munitionsfabrik leisten musste . Für vier Jahren leistete er schwere Zwangsarbeit für die deutsche Kriegsindustrie und überlebte es, dank eines unbekannten Arbeitskommadeurs, dem er anscheinend gefiel. Die Rote Armee im Rücken, wurde er zum Todesmarsch durch die Novemberkälte halbnackt bis Buchenwald geführt, wo er zwei Wochen in einem verkeimten, überfüllten Holzgebäude auf den Transport nach Flößberg wartete, ein Außenlager von Buchenwald, wo er wieder für die HASAG Firma zu arbeiten gezwungen wurde. Flößberg war schlimm. Die meisten Menschen, die mit ihm im Transport waren, starben. Als die Russen näher rückten, wurde das Lager Richtung Mauthausen in Österreich evakuiert. Ende Mai haben zwei kleine Panzer der Amerikanischen Streitkräfte die Mauer des Lager eingefahren und der Krieg war für meinen Opa vorbei. Die Häftlinge haben ihre Rache an den gebliebenen SS Männer genommen. Die Amis gaben den Gefangenen Waffen und sie jagten die übrigen Wachmänner in die Wälder nebenan. Opa verweilte nach seiner Befreiung in Bamberg in einem DP-Camp und fuhr dann zurück nach Zwolen. Er suchte sein Frau und sein Kind. Er erfuhr schließlich, dass sein 10-jähriges Kind und seine Frau bei einem Luftangriff der deutschen Luftwaffe schon 1939 gestorben waren. Ihn blieb nichts anderes übrig und 1946 wanderte er nach Israel ein, wo er meine Oma kennenlernte.

Diese Geschichte zeigte mir meine Bestimmung in Deutschland: Flößberg ist nur eine kurze Autofahrt von Wittenberg entfernt, wo ich zuerst in Deutschland gewohnt habe. Dem Transport meines Opas Richtung Süden folgte ich, als ich nach München zog. Und In Bamberg hatte ich auch einen Stop. Ich sehe, dass es eine Verbindung gibt, zwischen meiner Zeit in Deutschland und die meines Opas 70 Jahre vorher. Wie ich, hatte mein Vater über Opas Alptraum durch Gerüchte erfahren. Und jetzt, 70 Jahren danach, ist ausgerechnet mein Aufenthalt in Deutschland der Anlass, der die  Schatten der Vergangenheit enthüllt.

Diese Geschichte erzähle ich euch, da wir Juden uns jedes Jahr am Yom HaShoah an unsere 6 Millionen Brüder, Schwestern, Mütter, Väter, Kinder und Töchter erinnern, die durch die schrecklichen NS-Verbrechen ermordet wurden. Das wahre Ende dieses Kreises kam letztes Jahr, als mein Vater seine Abneigung vor Deutschland beiseite legte und mich in Deutschland besuchte. Und als dieser Kreis endete, fing ein anderer an. Da habe ich verstanden, dass ich darüber erzählen muss, wie mein Opa es selbst nicht machen konnte.


Asaf Erlich, 29 Jahre
hat 2013/2014 einen Freiwilligendienst in Deutschland geleistet und lebt seit dem in Deutschland, zur Zeit in München.