Merav Boaz / 49 Jahre

Ein deutscher Davidstern

Der junge Mann trug an einer Kette einen ziemlich großen silbernen Magen David, einen Davidstern, der auf seiner unbehaarten Brust ruhte.

„Andreas“ sagte er und reichte mir die Hand. „Nett, dich kennenzulernen.“ Er sprach mit mir Englisch und hatte eine angenehme tiefe Bassstimme. Einen schüchternen Händedruck.

Er war mit einer Gruppe von Freiwilligen aus Deutschland gekommen. „Wir wollen mit Autisten arbeiten. Mit den schwierigsten Fällen“, sagte er. „Wir alle haben Erfahrungen in verschiedenen Behandlungsbereichen und möchten in den nächsten drei Monaten gern behilflich sein.“
Und so war es. Die Gruppe von Jugendlichen, die in das Behindertenheim gekommen war, entpuppte sich als qualifizierte Arbeitsgruppe, die keine Art von Arbeit scheute. Auch die schwerste konnte der Entschlossenheit und Erfahrung, die sie im Gepäck hatten, nichts anhaben. Jeden Morgen kamen sie geschlossen aus dem Speiseraum und verstreuten sich dann, begaben sich in die verschiedenen Räume des Behindertenheims, um die ihnen zugeteilten Arbeiten zu übernehmen: vom Ankleiden der Bewohner, dem Waschen, der Begleitung in den Speisesaal und den einzelnen Behandlungen bis zum Putzen der Toiletten und dem Abwischen der Hintern.
Jedes Wochenende traf die Gruppe sich mit der israelischen Begleiterin, die Deutsch konnte, um die Woche, die hinter ihnen lag, zu besprechen und Dampf ablassen zu können. Nicht ein Wort des Vorwurfs war zu hören. Die Begleiterin berichtete mir über die Dinge, die sich in der Gruppe ereigneten und in einem Gespräch fragte sie, ob ich bereit sei, ihnen einen Vortrag über meine Vergangenheit in der Armee, den Dienst in den israelischen Streitkräften als Berufssoldatin zu geben. „Verstehst du, das interessiert sie am meisten“, lachte sie. Ich erklärte mich einverstanden. Vor allem, weil ich wissen wollte, was viele sich fragen.

Wie ist das, als Deutscher zum ersten Mal in Israel zu sein? Wie ist es, Angehöriger des Volkes zu sein, das Leid zugefügt hat und das Volk aufsucht, dem Leid zugefügt wurde? Was ist jedem persönlich darüber bekannt, was die Großeltern während des Zweiten Weltkrieges getan haben …

Am Ende des Vortrags kam Andreas zu mir und fragte mich mit zurückhaltender deutscher Höflichkeit, ob wir uns unterhalten könnten.

Er stellte mir Fragen zum Militärdienst, zur Schwierigkeit, in jungem Alter die Offizierslaufbahn einzuschlagen, den schweren Entscheidungen, die ich in meiner Funktion als Offizierin, die für die Angehörigen der Gefallenen zuständig war, zu treffen hatte. Fragen zu allem. Nachdem geraume Zeit vergangen war, entschuldigte ich mich und erklärte, dass ich noch ein weiteres Treffen habe und nicht zu spät kommen wolle. Ich schlug ihm vor, an seinem freien Tag in mein Büro zu kommen, wo wir unser Gespräch fortsetzen könnten. „Ich halte Israel für den wunderbarsten Ort der Welt“, fügte er rasch hinzu, es war ein regelrechter Worthagel, um mir diese Botschaft noch mit auf den Weg geben zu können.
„Na, dann wandere doch ein“, sagte ich lachend.
„Einwandern?“, fragte er.
Ich schaute ihn an und sagte: „Weißt du denn nicht, dass jeder Jude nach Israel kommen und zügig die Staatsbürgerschaft erhalten kann?“
„Ich bin kein Jude“, sagte er beschämt und schwieg …
Ich spürte, wie ich aus Verlegenheit eine Gänsehaut bekam. „Verzeih mir“, entschuldigte ich mich, „du trägst einen so großen Davidstern, dass ich annahm, du seist Jude …“
„Als ich siebzehn war, bekam ich diesen Magen David“, sagte er, wobei er beide Wörter auf der ersten Silbe betonte, wie es im Jiddischen, in der Diaspora ausgesprochen worden war. „Ich habe geschworen, ihn zeit meines Lebens zu tragen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich lieber. Er stand da, warf mir einen kalten gequälten Blick zu.
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte er und beließ es dabei. „Danke für das Gespräch. Ich komme nächste Woche vorbei.“ Er verabschiedete sich mit einem formellen Händedruck und ging.

In der Woche darauf hatte ich gerade eine anstrengende Sitzung beendet. Als ich den Blick hob, war er da, lehnte am Türsturz meiner Bürotür, schlaksig und mager – meine Aufregung nahm zu. Sein Blick wirkte noch kühler. Lag es vielleicht an der orangefarbenen Bräune, die einen perfekten Hintergrund darstellte? Ich bot ihm einen Platz an und er blieb stumm. Nach einigen Minuten der Verlegenheit und mehreren zögernden Antworten auf meine rein informativen Fragen sagte er: „Könnten wir rausgehen und uns woanders unterhalten?“

Wir verabredeten uns für den frühen Abend in einer ruhigen Kneipe in der Nähe der Tel Aviver Unterkunft, wo die Gruppe wohnte.

„Danke fürs Kommen“, sagte er und begrüßte mich mit dem bekannten formellen Händedruck.
„Bei uns umarmt man sich schon nach zwei Treffen“, sagte ich lachend, damit er ein wenig lockerer würde und verpasste ihm eine echte israelische Umarmung. Wir bestellten. Ein Bier für ihn und ein Glas Weißwein für mich. Ein langer Schluck, der auf seiner Oberlippe Schaum hinterließ und er begann: „Ich habe mich vorbereitet, es ist eine heftige Geschichte“, flüsterte er und ich beugte mich zu ihm, um kein Wort zu versäumen.

„Ich bin von Geburt an Deutscher“, setzte er an. „Meine Mutter stammt aus einer sehr angesehenen österreichischen Familie. Sie hat einen Stammbaum, der mindestens fünfhundert Jahre zurückreicht und von der Verwurzelung der Familie zeugt. Meine Mutter ist sehr nett und ein nachgiebiger Mensch. Sie hat meine Schwester und mich großgezogen und ist kaum einer eigenen Arbeit nachgegangen. Mein Vater ist Geschäftsmann, der gut für sie und uns sorgt. Er stammt aus einer recht einfachen Familie und hat in jungen Jahren ein Vermögen durch schwere Arbeit erwirtschaftet. Natürlich hießen die Eltern meiner Mutter diese Verbindung wegen seiner mangelnden Herkunft nicht gut, es war ihre einzige Tochter, aber sie konnten nichts dagegen machen…“ Er hielt inne und nahm einige lange Schlucke von dem dunklen Bier.

„Die Mutter meiner Mutter, meine Großmutter, gewöhnte sich an die entstandene Situation und lernte meinen Vater lieben. Trotz ihres angeborenen Snobismus wusste sie auszumachen, wenn jemand über ein gutes Herz, Aufrichtigkeit und Talent verfügte. Nicht so mein Großvater. Stets hatte er das Gefühl, dass seine einzige Tochter etwas Besseres verdient habe. Verstehst du? Für ihn fühlte es sich an, als habe er vor sämtlichen Bekannten eine Ohrfeige einstecken müssen, sei auf dem Marktplatz der Stadt öffentlich gedemütigt worden“, sagte Andreas und lachte. Ich konnte die Bitterkeit und den Kummer in diesem verunglückten Lachen hören.

„Mein Großvater ist ein schwieriger Mensch. Das war er immer. Als meine Großmutter starb, obwohl sie zwanzig Jahre jünger als er war, zog er bei uns ein. Ich war zu dem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt. Das gute Leben, das ich bis dahin gehabt hatte, verkehrte sich in einen einzigen, nicht enden wollenden Alptraum… Mein Großvater machte mir gegenüber bissige Bemerkungen wegen der Art und Weise, wie ich am Tisch saß, das Besteck benutzte und auch was meine Freunde, den Fußball anging.“ Er holte tief Luft.
„Zu allem. Zu al-lem. Er ließ mich nicht in Ruhe. Auch nicht meine Mutter und erst recht nicht meinen Vater. Ständig machte er verächtliche, heftige, quälende Anspielungen. Wegen ihm zog es mich ins Internat. Meine Mutter flehte mich an, dass ich zu Hause bleiben solle. Ich sagte ihr, dass ich ihn hassen würde… Und es war eine enorme Befreiung, es auszusprechen. Ich hasste ihn.“

Andreas bedeckte sein Gesicht mit den Händen, stand auf und sah mich mit weitgeöffneten hellblauen Augen an.

„Unser Zuhause bekam Risse. Das Verhältnis zwischen Mutter und Vater, zwischen mir und den Eltern, zwischen mir und meiner Schwester – alles fiel seiner furchtbaren Präsenz zum Opfer. Er war verbittert, krank, grantig, er schulmeisterte, beschuldigte und war verletzend – jeden Tag, den ganzen Tag.
Ich floh auf die Straße. Zu weniger guten Freunden. Ich haute oft aus der Schule ab. Begann zu rauchen. Leichte Drogen zu nehmen. Alkohol bis zum Verlust der Sinne. Eines Abends, draußen vor irgendeiner Bar, als ich bereits stockbetrunken war, sah mich ein Freund aus der Kindheit, kam auf mich zu und fing ein Gespräch an. Zwischendurch erkundigte er sich, wie es meiner Schwester und meinen Eltern ginge. Ich erzählte nur die halbe Wahrheit – Hauptsache, er würde mich in Ruhe lassen.
‚Und was ist mit deinem Großvater, diesem Nazi?’, fragte er. Die Frage versetzte mich in Rage.
‚Was sagst du da?’, gab ich zurück.
Er wiederholte es und meinte: ‚Andreas, das weiß jeder – das kann man nicht verbergen. Dein Großvater war ein Nazi…’ Mir blieb die Luft weg. Ich verlor die Gewalt über mich und versetzte ihm einen Fausthieb. Meine Freunde hielten mich zurück und er zog mit seinen fluchend weiter, während seine Wunde blutete …“

„Verstehst du“, sagte er. „In Deutschland wirst du das Wort ‚Nazi’ nicht hören. Nicht mal im Scherz und diesem blöden Freund kam es mit solch einer beängstigenden Leichtigkeit über die Lippen und noch dazu vor all den anderen. Ich entfernte mich von der Clique und setzte mich in den Park. Das Wort ‚Nazi’ ließ mich nicht mehr los. Ich hatte das Gefühl, mein Herz sei zu Eis erstarrt. Ich würde zu Stein. Wenn mein Großvater ein Nazi war, was sagte das über mich aus? Wer war ich? Der Enkelsohn eines Mörders? Der Alkohol machte alles noch schlimmer und meine Beine trugen mich irgendwie nach Hause. Zu dem Nazi, der mir bereits seit Jahren das Leben verbitterte …
Den ganzen Weg über stellte ich mir die Auseinandersetzung mit ihm vor. Ich würde ihn zur Rechenschaft ziehen, meiner Wut über die schweren Jahre Luft machen, die er uns durch seine peinigende Präsenz und seinen Machtanspruch beschert hatte. Ich malte mir aus, wie ich ihn lauthals herausforderte und er einen Herzinfarkt bekäme, er würde vor mir zusammenbrechen und mit einem Ausdruck des Schreckens auf dem Gesicht das Zeitliche segnen …
Ich trug nichts als Hass im Herzen. Hass, der mich nach Hause trieb und den Einfluss des Alkohols und der chemischen Substanzen außer Kraft setzte, die ich meinem Körper eingeflößt hatte. Es war purer, tiefsitzender Hass.“

Andreas atmete durch. Bestellte ein weiteres Bier und nach einer Minute, die eine Ewigkeit lang wirkte, sprach er langsam weiter, suchte auf Englisch nach den passenden Worten.

„Am Eingang zu unserer großen Villa sah ich die Rundumleuchten des Krankenwagens. Viele Leute liefen geschäftig um das Fahrzeug herum, das Ganze glich einer Szene aus einem amerikanischen Film. Meine Mutter stand mit zerzaustem Haar neben der Trage, auf der mein Großvater lag. Er hatte die Augen geschlossen und trug eine Sauerstoffmaske.
‚Andreas, komm her’, rief meine Mutter mir zu. Ich ging zu ihr, legte ihr die Arme um die Schultern, woraufhin sie in Tränen ausbrach. Das entsprach so gar nicht der deutschen Mentalität. Ohne jegliche Selbstkontrolle in Gegenwart dieser Leute, den Nachbarn in Schluchzen auszubrechen … Ich musste mit ihr und meinem Großvater in den Krankenwagen steigen und mit ihnen ins Krankenhaus fahren. Mein Vater und meine Schwester fuhren uns in dem schwarzen Mercedes nach. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass auch diese Szene mit dem ‚Leichenwagen’, wie meine Schwester und ich den Luxusschlitten meines Vaters nannten, aus irgendeinem amerikanischen Kitsch-Film stammte.
Einige Tage hielten wir am Krankenbett meines Großvaters Wache. Dann sprach meine Mutter mit den Ärzten, die eine Verlegung ins Hospiz empfahlen. Ein Neunzigjähriger, der nicht mehr kommunizieren konnte, war kein Kandidat mehr für die Behandlung in einem normalen Krankenhaus. Mein Vater sagte zu meiner Mutter, dass er mit allem, was sie entscheide, einverstanden sei und sie in jedem Fall seine Unterstützung habe. Mein guter Vater, der anderen Gutes tat und an dem nichts von dem Gift haften geblieben war, das mein Großvater versprüht hatte. Meine Mutter bat mich, mit ihr das Hospiz zu besichtigen, bevor sie sich zu einer Entscheidung durchringen würde.

Ich begleitete sie. Wir blickten uns in den großen, hell erleuchteten Räumen um, wo stille geisterhafte Gestalten in riesigen Betten von neuestem technischen Standard lagen, als fixierten sie auf den schneeweißen Laken die Überbleibsel ihres Lebens und versicherten sich so ihres Daseins auf dieser Welt.
‚Ja. Das wird Großvater recht sein’, meinte meine Mutter. Und fügte hinzu: ‚Bis er sich besser fühlen und wieder nach Hause kommen wird.’
Ich sah sie an. Verstand nicht, ob es eine zynische Bemerkung sein sollte, was so gar nicht ihre Art war, oder sie nicht wahrhaben wollte, was glasklar auf der Hand lag.
Erneut machte sich Wut in mir breit. Ohne nachzudenken, schoss es aus mir raus: ‚Dein Vater, dieser Nazi, wird sich hier bestens fühlen.’
Sie erstarrte. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, das sonst immer leicht gerötet war und sie wurde bleich. Brachte keinen Ton hervor.
‚Hast du gehört?’, schrie ich sie an. ‚Er ist ein Nazi. Dieser widerliche, schreckliche Mensch, der unser aller Leben verbittert hat, ist ein Nazi. Ein Nazi. Ein Mörder.’
Meine Mutter machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Ich hörte ihre niedrigen Absätze über die polierten Fußböden hallen und die Stille rundum durchbrechen, die beinahe eine Totenstille war. Mir brach der Schweiß aus. Ich konnte mich nicht länger auf den Beinen halten, sank auf den Boden und lehnte mich an der weißen rauen Wand an.

Das war’s. Ich hatte es ausgesprochen. Ich hatte fest damit gerechnet, dass ich als Sieger aus der Sache hervorgehen würde. Mit der reinen Wahrheit. Erleichtert. Aber mein Herz war nur von einem Gefühl beherrscht: tiefsitzende Übelkeit. Ich musste mich übergeben. Als ich vor die Tür trat, hielt ich Ausschau nach dem Auto meiner Mutter, es war nicht da. Ich nahm den Zug nach Hause. Im Haus war es still und kalt. Ich machte mich über die gut bestückte Bar meiner Eltern her und betrank mich. Stundenlang schüttete ich literweise Alkohol in mich hinein. Bis zur Bewusstlosigkeit.“

Andreas sah mich an und sagte: „Du hast wohl keinen Hunger.“
„Nein“, sagte ich schnell. „Ich bin eher hungrig, die ganze Geschichte zu erfahren.“ Er lachte, es war ein warmherziges Lachen. Sein erstes echtes Lachen und es klang so angenehm. Ich trank meinen Wein aus und bestellte ein zweites Glas. „Erzähl bitte weiter“, drängte ich ihn.

„Dann wachte ich im Krankenhaus auf. Alkoholvergiftung. Mein Magen wurde ausgepumpt. In meiner Erinnerung war alles verpixelt und durchzogen von Gedächtnislücken, von Dingen, die abrissen. Die tiefe Übelkeit war immer noch da. Ich weigerte mich, etwas zu essen oder zu trinken. Und bekam unzählige Transfusionen. Ich wollte niemanden sehen. Nicht meine Eltern. Nicht meine Schwester und nicht meine Freunde. Ich lag da, die Augen nur einen Spaltbreit geöffnet, unterzog meine leere, tiefe Seele einer Innenschau. Es waren öde Tage.

Die Psychiaterin, die mich in meinem Zimmer aufsuchte – wie es die Krankenschwester am Morgen versprochen hatte – war blond. Dr. Annett Dortmund, stellte sie sich vor. Sie war kräftig, hatte hellblaue Augen und lange Wimpern. Sie wirkte in sich gefestigt. Ruhig. Tiefsinnig. Sie schien keinen auf klug zu machen, war aber klug. Vielleicht kam das Gespräch in Gang, weil mir bereits nach reden zumute war.

‚Was fühlen Sie?’, fragte sie liebenswürdig. Mit abgrundtiefem Ernst, als wäre nicht dies die Eröffnungsfrage eines jeden Seelentherapeuten.
‚Abscheu’, sagte ich. ‚Und davon eine Unmenge …’
‚Sie waren in Lebensgefahr.’ Fuhr sie fort. ‚Wären Ihre Eltern nicht gekommen, hätten sie das unter Umständen nicht überlebt.’
‚Ich will nicht sterben’, sagte ich zu ihr. ‚Ich will, dass er stirbt.’
‚Er?’, fragte sie neugierig.
‚Mein Großvater. Er ist ein Nazi. Er muss sterben.’
Falls es sie erschütterte, ließ sie es sich nicht anmerken. Ich legte es darauf an, dass meine Erschütterung auf ihre träfe. Damit meine nicht so einsam wäre. Ohne Erfolg.
‚Was sollte geschehen, wenn es nach Ihnen ginge?’, fragte sie.
‚Ich möchte ihn an Israel ausliefern. Sollen sie ihn aufhängen. Wie Eichmann.’
‚Sind Sie sicher, dass er ein Nazi war?’, hakte sie nach.
‚Ja’, gab ich ohne Zögern zurück. ‚Allein an der Reaktion meiner Mutter hätten Sie ablesen können, dass es stimmt.’
Dr. Dortmund sah mir in die Augen und fuhr fort: ‚Es gibt eine Liste der Kriegsverbrecher. Das ist dokumentiert. Es gibt ein Archiv. Ob er seinen Namen geändert hat und sich hinter einem anderen verborgen hat?’
‚Nicht, dass ich wüsste. Dafür legt er auf seinen Namen zu viel Wert. Er prahlt mit dem Familienvermögen, das bis auf die Habsburger zurückgeht. Er hat immer meinen Vater gedemütigt, der aus einer Schusterfamilie stammt, woher auch unser Name rührt – Schuster…‘
‚Wie ist es ihm Ihrer Meinung nach dann gelungen, sich der Verfolgung zu entziehen?’, fragte sie und reizte mich damit.
‚Keine Ahnung. Mit Geld. Gefälschter Geburtsurkunde. Er ist korrupt. Er würde alles tun, um zu überleben’, entgegnete ich und konnte mich nicht beherrschen. Frau Dr. Dortmund schwieg.
‚Sehen Sie, Doktor’, sagte ich zu ihr, versuchte, das Schweigen zu brechen. ‚Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen, aber ich brauche keine Hilfe. Ich will nicht sterben.’
‚Ah’, erwiderte sie.
‚Glauben Sie mir etwa nicht?’, fragte ich ungehalten.
‚Ich verstehe, dass Sie mit Problemen zu kämpfen haben und ich glaube, dass ich Ihnen helfen kann’, antwortete sie und putzte dabei am Saum ihres Kleides energisch ihre Brille.

Am Tag meiner Entlassung aus dem Krankenhaus kam mein Vater mich abholen. Er stand am Eingang der Station. Wusste nur begrenzt, was er tun sollte. Ich umarmte ihn. Er weinte. ‚Was ist nur passiert, Andreas?’, fragte er, wischte dabei die Tränen weg. ‚Welches Problem hattest du mit deiner Mutter? Warum wolltest du keinen Besuch von uns?’ Ich stieg in den funkelnden Wagen meines Vaters und machte mir Luft: ‚Warum habt ihr mir nicht erzählt, dass Großvater ein Nazi ist?’
‚Wozu hätte das gut sein sollen?’, fragte mein Vater. ‚Was war, das war. Jetzt ist er nur noch ein alter Mann, der im Koma liegt und im Sterben …’
‚Weil er für das büßen muss, was er getan hat’, schrie ich.
Vater bedachte mich mit einem durchdringenden Blick und erwiderte: ‚Andreas, du bist kein Gericht, kein Richter und kein Henker. Du bringst deine Mutter mit diesem Unsinn noch ins Grab!’
Ich verstummte. Ich konnte mich kaum beherrschen, wäre am liebsten mitten auf der Straße aus dem Auto gesprungen. Schweigend setzten wir die Fahrt fort. Mein Vater umgab sich mit dem Kummer, den er empfand, während ich meinen Zorn unterdrückte.

An mir zogen die Jahre vorbei, in denen mein Großvater meinen Vater  tyrannisiert, ihn erniedrigt hatte mit seinen beleidigenden eiskalten Bemerkungen, die er mit Eloquenz und einer ordentlichen Portion Gift gespickt auf ihn losgelassen hatte. Mein Großvater hatte sich über die niedere Herkunft meines Vaters bei jeder Gelegenheit und vor unterschiedlichen Personenkreisen lächerlich gemacht, hatte die auf ihn gerichteten Giftpfeile zunehmend veredelt.

An jenem Wochenende besuchten die Eltern meine Schwester an der Hochschule in Dresden. Ich blieb allein in der Villa, die über die Geheimnisse der Familie wachte und die ich unbedingt ans Licht bringen wollte. Ich durchpflügte regelrecht jede Ecke, wie dunkel sie sein mochte. Knöpfte mir jede verdächtige Kiste vor, die erschütternde Beweise enthalten konnte und leerte deren Inhalt auf dem Fußboden aus. Durch meine grob zupackenden Finger, die schnellstens fündig werden wollten, glitten Hunderte vergilbter Fotos, Dutzende braune, befleckte Blätter, die aus Heften herausgerissen worden waren, und verstaubte, muffig riechende Bücher.“

„Sie haben bestimmt schon Hunger. Wollen wir etwas zu essen bestellen?“ Andreas hatte mitten im Redefluss innegehalten und wandte sich mit dieser banalen Frage an mich. „Ja“, murmelte ich und bestellte zerstreut irgendeinen Salat. Andreas führte mit der Kellnerin ein Gespräch, das eine Ewigkeit zu dauern schien und sich darum drehte, wie er das Steak wünschte und welche Sauce er haben wollte. Als er sich wieder auf sich besann, auf sich als Erzähler, eine Position einnahm, die ich bereits kannte, atmete ich auf. Ich wollte nicht, dass er abbrechen würde.

„Nach ermüdenden Stunden legte ich mich im Wohnzimmer auf das warme Parkett, erschöpft, geschlagen. Nicht die Spur einer Nazi-Vergangenheit. Nicht den geringsten Beweis hatte ich gefunden. Ich hatte Bilder aus der Zeit aufgestöbert, wo Druck und Fotografie aufkamen… mit Tinte ausgestellte Urkunden, ein Tintenfass und eine Schreibfeder. Ein Briefwechsel zwischen der Stadt und einem Rechtsanwalt, der meinen Urgroßvater in seinen Besitzangelegenheiten in Österreich und Deutschland vertreten hatte. Alles war dort versammelt. Außer das, was ich suchte. Außer diesem Beweis, der ihn überführen und mein Bedürfnis stillen würde, meinem Großvater Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihm wehzutun, wie er uns wehgetan hatte.
Unmittelbar nachdem meine Mutter nach Hause gekommen war, sah ich ihr im Gesicht an, wie sehr sie in den vergangenen zähen Wochen gealtert war. Ihre Schultern fielen nach vorn, das schöne Kleid, das sie trug, wirkte wie ein Sack, der sich nicht an ihre Formen schmiegte und daher wie ein Ballon um ihren müden Körper hing.
Wortlos blickte sie mich an. Sie ging langsam in ihr Zimmer, schloss die Tür, hinterließ nur diesen blumigen Hauch eines Duftes, der mir in einem Maße vertraut war, dass es schmerzte. Der quälende Druck in meiner Brust nahm immer mehr zu. Kurz nachdem meine Mutter aus ihrem Zimmer gekommen war und fragte: ‚Bist du fündig geworden?’ schüttelte ich den Kopf, ich gab mich geschlagen.
‚Großvater ist gestorben’, sagte sie und ging wieder in ihr Zimmer.

Zur Beerdigung ging ich nicht. Ich blieb zu Hause, in meinem Zimmer. Die Eltern ließen mich gewähren. Meine Schwester versuchte mich zu überreden, gab jedoch auf.

Die Leere in den Zimmern wurde unerträglich und bedrückte mich. Mir war danach, mich zu betrinken. Mir war nach Tabletten, Drogen, nach allem zumute, was mich zu meinem Körper, zu meiner Seele auf Distanz bringen würde. Ich hatte bereits einiges intus, als der alte Gong an der Haustür läutete. Ich versuchte erst gar nicht, bis dorthin zu gelangen. Wer immer es sein mochte – sollte er Leine ziehen, dachte ich. Hier war keiner zu Hause. Die Person vor der Tür blieb hartnäckig. Ich schleppte mich zum Eingang. Eine runzlige Alte stand davor. Sie mochte um die achtzig sein. Ich nahm sofort Haltung an. Es wäre mir unangenehm gewesen, wenn sie den Alkohol gerochen hätte. Daher atmete ich zur Seite aus und gab mich so nüchtern wie möglich: ‚Kann ich Ihnen helfen, meine Dame?’
Bevor ich sie aufhalten konnte, schlüpfte sie mit ihrem kleinen Körper durch den Spalt zwischen mir und der Tür, fand den Weg zu unserem Sofa im Wohnzimmer, wo sie sich niederließ. Sie hielt eine Tasche in der Hand. Wartete ab. Weshalb? Das wusste ich nicht. Sogleich war ich stocknüchtern.
‚Mein Name ist Henriette’, sagte sie. ‚Ich bin eine Bekannte von Hermann.’ Das war der Name meines Großvaters.
‚Ich habe ihn im Krieg kennengelernt’, sagte sie. Mein Kiefer bebte und ich ließ mich ihr gegenüber in einen Sessel sinken, wagte es nicht, ihre langsame, ruhige, angestrengte Rede zu unterbrechen.
‚Er war jung. Vielleicht sechzehn. Ich war zwölf. Alle anderen taten genau, was man ihnen hieß und die meisten sehr gern. Hermann war anders. Er war gehorsam, aber er führte die Befehle keineswegs gern aus.’ Sie schwieg. Dann schaute sie mich mit einer Neugier an, die für ihr hochbetagtes Alter untypisch war, kratzte sich an dem Kopf mit den weißen dünnen Haaren, die den rosafarbenen Schädel nur spärlich bedeckten und fragte: ‚Bist du der Enkelsohn?‘
‚Ja’, flüsterte ich. ‚Du bist ihm sehr ähnlich’, entschied sie. ‚In jungen Jahren war er so schön wie du. Heute sieht man das kaum noch’, setzte sie hinzu. ‚Wenn man alt ist, sieht man aus wie ein fermentiertes Tabakblatt.’
‚Was hat er im Krieg gemacht?’, fragte ich Henriette und spürte, wie mein Herz zu rasen begann.
‚Was man ihm befahl. Wie alle.‘ Sie erklärte es mir wie einem Schüler, der schwer von Begriff war.
‚Es war ein Ding der Unmöglichkeit, die Befehle nicht auszuführen. Verstehst du, die Strafen waren zu hoch. Gehorsam war alles. Alles. Aber Hermann war anders. Er hasste die Schläge. Die Grausamkeit. Die Uniformen. Die Hunde. Einmal erzählte er mir sogar, dass er gern Musiker wäre. Nicht Soldat. Aber das kam nicht infrage. Seine Familie hätte darunter gelitten, wenn er sich widersetzt hätte. Viel stand auf dem Spiel und lastete auf seinen Schultern: der Familienbesitz, die Herkunft, seine Geschwister und deren Ausbildung, das Leben aller hing von seinem Gehorsam ab und er gehorchte. Nur nicht gern.’
Wieder stieg dieser Zorn in mir auf und brachte mein Blut in Wallung. ‚Was soll das heißen?’, brach es aus mir heraus, nur mit Mühe den aufsteigenden Zorn unterdrückend. ‚Er war ein Nazi, stimmt’s? Er hat Juden getötet, nicht wahr? Er hat Menschen in den Tod geschickt, er hat sich an dem schrecklichsten Massenmord der Menschheit beteiligt! Wen zum Teufel kümmert es denn, ob er es gern getan hat oder nicht?’ Mittlerweile schrie ich beinahe.
Henriette sah mich beinahe amüsiert an. ‚Du und deine Generation könnt nicht nachvollziehen, wie das damals war’, sagte sie mit fester Stimme. ‚Es war nicht allein unser Alptraum – der der Juden, Farbigen, Sinti und Roma und Regimegegner. Es war auch ihr Alptraum – der der normalen Deutschen, die Nazis werden mussten. Wie Hermann.’ Sie schwieg, durchstreifte ihre persönlichen Erinnerungen.
‚Sind Sie Jüdin?’, erkundigte ich mich zögernd.
‚Kommt darauf an, wen du fragst’, sie lachte wie ein junges Mädchen, ihre Augen verschwanden in den Tiefen ihrer Falten. ‚Ich erhielt vom Naziregime zum zwölften Geburtstag ein Geschenk. Am 14. November 1935 wurde Die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlassen und da begriff ich: Obwohl ich bei deutschen Eltern christlichen Glaubens lebte, regelmäßig in die Kirche ging und ein Kreuz um den Hals trug, war ich eigentlich Jüdin … Von da war der Weg ins Ghetto kurz. Die Jugendkompanie von Hermann verstärkte den Wachschutz um das Ghetto. Ich konnte ihn und seine Kameraden durch den Stacheldraht sehen. Er machte einen unglücklichen Eindruck. Seine Kameraden hatten Vergnügen daran zu misshandeln, Schläge auszuteilen und mit den Bewohnern des Ghettos ihren Mutwillen zu treiben. Vor allem mit den Mädchen. Vor allem mit solchen wie mir, die dem Aussehen nach arisch und dem Blut nach jüdisch waren. Sie hielten uns für Hochstapler. Wir waren Ziel von immer wiederkehrenden Attacken. Die in erster Linie grausam waren. Wir waren daher stets paarweise oder mit Erwachsenen unterwegs, um das Risiko eines Angriffs einzudämmen. Einmal ging ich allein an ihnen vorüber.’ Henriette hielt urplötzlich inne und atmete mehrmals tief durch. Ich bot ihr Wasser an. Sie lehnte höflich ab.
‚Es war schon spät. Ich kam aus der Wäscherei, wo ich arbeitete. Ich hörte das spöttische Lachen einer Gruppe der Hitler-Jugend, ihre Stimmen, noch bevor ich sie sah, aber da war es schon zu spät und sie nahmen mich wahr. Wie eine Herde grausamer Hyänen fielen sie über mich her, schubsten, kratzten, begrapschten mich grob am ganzen Körper … ich versuchte wegzurennen, aber der Größte von ihnen zielte mit einem Schlagstock in mein Gesicht und schrie: ‚Du stinkende Jüdin!’ … Ich fiel hin und er stellte seinen Fuß auf meinen Bauch. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Aus Zorn und Angst schrie ich ihm entgegen: ‚Ich bin keine Jüdin, du fettes Schwein.’ Der Hieb ließ nicht auf sich warten und ich wurde bewusstlos. Als ich aufwachte, war mein Oberkörper nackt und von Blut überströmt. Ich konnte kein einziges Glied meines Körpers regen, ohne vor Schmerz aufzustöhnen. Es war schon mitten in der Nacht. Und still. Ich wusste, dass ich verletzt, aber zu meinem Glück nicht vergewaltigt worden war.’ Erneut verstummte sie und schaute mich an.
‚Viele der Mädchen, ein Teil von ihnen noch Kinder, waren von den Soldaten und den Jugendkompanien vergewaltigt worden. Ich schloss meine Augen. Ich versuchte all meine Kraft zu bündeln, um auf die Beine zu kommen, als ich eine kühle Hand auf meiner Stirn spürte. Ich schlug die Augen auf – und da war er. Dieser schöne junge Mann, der genau wie du aussah – Hermann. Er half mir aufzustehen, suchte meine Bluse und reichte sie mir, ohne auf meine entblößte Brust zu schauen. Er gab mir aus seiner Wasserflasche zu trinken und ließ mich mein Gesicht waschen. Ich wusste, dass er die brutale Truppe davon abgehalten hatte, mich zu vergewaltigen und anschließend umzubringen … Ich flüsterte ihm ein Danke zu. Und sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
‚Es tut mir leid’, sagte er. ‚Sie sind Bestien. Wie ich das hasse. Ich möchte nicht Teil dessen sein’, er weinte vor mir. Und ich weinte auch. Ein Mädchen und ein Junge – in einer Welt, die dem Wahnsinn verfallen war. Eine Szene aus einer anderen, einer fiktiven Wirklichkeit.’ Ein nachdenkliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
‚Ich sah ihn in jenen Monaten häufig’, sprach sie weiter, von dem Lächeln ermutigt, das ich erwidert hatte, während ich sie mir als blondes kämpferisches Mädchen mit dem schönen sensiblen Hermann vorstellte.
‚Wir redeten viel, stiebitzten lange Minuten, in denen wir außer Sichtweite seiner Kameraden und meiner Familie waren. Wir wachten über den Verstand des anderen. Wer hätte geglaubt, selbst wenn wir es erzählt hatten, dass ein jüdisches Mädchen und ein christlicher Junge durch eine Freundschaft verbunden sein konnten. Aber …’, sie seufzte. ‚Ich fühlte mich nicht als Jüdin und er nicht als Nazi. Wir steckten in der Wirklichkeit fest wie Touristen, die aus Versehen an einen Unglücksort gelangt waren. … Und dann wurde er zur Verstärkung an die Front geschickt und ich hörte nie wieder von ihm. Ich kam von einem Lager ins andere. Bis zur Befreiung. Alle Mitglieder meiner Familie waren ermordet wurden. Die Juden waren und die nie Juden gewesen waren.’ Ihre Stimme bebte. Ich gab ihr ein Glas Wasser und sie trank im Stillen.
‚Nach dem Krieg machte ich mich auf die Suche nach Hermann. Ich hoffte, dass er am Leben wäre. Ich wusste seinen Familiennamen und suchte ihn viele langwierige Monate. Als ich ihn schließlich fand, fand ich nicht den Hermann vor, den ich kannte. Ich fand einen Jungen vor, der durch die Nachwirkungen des Krieges extrem gealtert war. Das Jugendliche in seinen Augen war erloschen. Er war alt geworden. Ihm war anzusehen, dass er an der Front die allerschlimmsten Dinge durchgemacht hatte, an denen er zerbrochen war. Er war verbittert und von Groll zerfressen. Unsere Begegnung war quälend. Er hatte Angst, als Soldat enttarnt zu werden. Da er so jung war, ließ sich vertuschen, dass er während des Krieges als Soldat gedient hatte und seine Familie verfügte über ausreichend Geld, um Dokumente verschwinden und neue ausstellen zu lassen. Die Zeit an der Front hatte er als ‚Freiwilliger’ geleistet und so ließ man ihn in Ruhe. Ich versicherte ihm, über sein Geheimnis Stillschweigen zu wahren. Er bat darum, dass wir uns nie wiedersähen. Wir weinten beim Abschied und ich sah ihn in der Tat nie wieder.’
‚Er war ein Nazi’, flüsterte ich.
‚Nein, war er nicht!’, sagte Henriette mit Nachdruck. ‚Er war ein Mensch. Ein Mensch. Und sie haben ihn zugrunde gerichtet. Genauso wie ihre Opfer. Und er war ein Opfer.’
Henriette öffnete ihre Tasche, holte eine Kette hervor, übergab sie mir und sagte: ‚Diesen Davidstern habe ich von meiner Großmutter bekommen. Sie war Jüdin. Als ich aus dem Lager in mein Elternhaus zurückkehrte, das zur Hälfte abgebrannt war, fand ich diese Kette unversehrt in meinem alten Zimmer in meiner Schmuckdose. Sie ist sehr alt und aus reinem Silber. Ich wollte sie Hermann aufs Grab legen, aber nun habe ich eine bessere Idee. Ich möchte sie dir geben …’
Henriette umarmte mich und sagte: ‚Ich habe keine Kinder. Ich habe nie geheiratet. Ich gehe sonntags in die Kirche und am Schabbath in die Synagoge. Ich habe den Rabbiner der Gemeinde darum gebeten, mich nach meinem Tod in Israel zu beerdigen. Du bist hier und all deine Familienangehörigen sind auf dem Friedhof auf Hermanns Beerdigung. Du hegst Groll gegen ihn. Ich hoffe, dass du ihm verzeihen kannst. Er ist Mensch geblieben. Auch er ist ein Opfer.’
Henriette umschlang mich kurz mit ihren dünnen Ärmchen und verließ das Haus. Ich begegnete ihr nie wieder.“

„Seitdem trage ich diesen Davidstern“, sagte Andreas zärtlich, während er mit einem Finger über den schönen Schmuck strich. „Er ist mir ein Kompass. Ich habe die Schule beendet und Krankenpflege studiert. Ich habe einige Jahre in Hospizen gearbeitet und dann entschieden, nach Israel zu gehen. Das ist nun hier mein erster Besuch und ich werde immer wiederkommen. Für Hermann. Für Henriette. Für mich …“

Schweigend saßen wir da.
Eine Frau und ein junger Mann.
Zwischen ihnen ein silberner Davidstern.


Merav Boaz, 49 Jahre
reiste im Jahr 2005 privat für einige Tage nach Deutschland.