Ella Thiäner / 18 Jahre

Sie schrie zu Gott

Die Frau neben mir schrie. Sie schrie und weinte. – Sie schrie zu Gott. – Ihre Stirn hatte sie an die Mauer gelegt und beide Hände links und rechts von ihrem Kopf suchten Halt im Stein. Ihr ganzer Körper schien zu leiden und sich gleichzeitig völlig zu befreien. Alles von ihr, ihrem Körper und ihren Gedanken, war beim Gebet. Ewig hatten sich Nöte und Sorgen in ihr angestaut und schienen nun aus ihr herauszubrechen. Von ihrem Umfeld nahm sie nichts wahr, nur sie und ihr Gebet waren da. Ließen keinen Platz für anderes. Und so rücksichtslos ihr Verhalten für andere geschienen haben mag, umso umwerfender fand ich diese Szene. Mich nahm diese Erscheinung völlig ein. Es gab so viel Verzweiflung in ihrem Handeln und ihrem Ausdruck, in ihrer Sprache, obwohl ich nichts davon verstand, und ihrer Haltung, dass es mir absurderweise Hoffnung gab. Hoffnung, denn ich wusste, dass diese Frau in diesem Moment mit Gott war.

Ich dachte an zu Hause, an meine Schule in Berlin und unseren Religionsunterricht. Wir hatten einmal die Aufgabe bekommen, unser eigenes Credo zu schaffen. Irgendetwas, das unserem persönlichen Glauben Ausdruck gab. Unsere anschließende Diskussion führte soweit, dass wir irgendwann zur These kamen, Glaube und Fortschritt widersprächen sich und für eine Zukunft der Wissenschaften würden Religionen nicht mehr gebraucht werden. Diese Aussage machte mir solche Angst und führte gleichzeitig zu solcher Unsicherheit bei mir, dass nur ein Gefühl der Entrüstung blieb. Denn wie sollen wir in einer Welt ohne Glauben leben können?

Schon auf dem Weg hierher, zur Klagemauer, waren uns viele religiöse Menschen entgegengekommen. Juden, die auf dem Weg zur Synagoge waren und mit ihrem Aussehen ihren Glauben auf stärkste Weise nach außen trugen. Natürlich kann man in Frage stellen, ob das nötig ist und vielleicht auch welchen Zweck das haben soll, aber mir war das völlig egal. Die vielen religiösen Menschen zu sehen, gab mir Hoffnung. Ich dachte mir, dass jeder Mensch, der seinen Glauben hat und ihn in Liebe lebt, eine innere Stärke hat und einen Grundrespekt vor der Schöpfung der Welt und anderen Menschen. Das beruhigte mich zutiefst. Und so kam es, dass mir diese Frau, die so voller Verzweiflung schrie, stärker schien als alles andere, was ich in letzter Zeit gesehen hatte.

Die Frau neben mir schrie. Sie schrie zu Gott. Hier an der Klagemauer in Jerusalem, war sie völlig frei und unglaublich menschlich.


Ella Thiäner, 18 Jahre
hat im Herbst 2016 im Rahmen eines Jugendaustausches für zwei Wochen Israel besucht.