Jana Prestrich / 18 Jahre

Chaim sheli

Um genau 4.22 Uhr habe ich offiziell die israelische Grenze überquert.

Das weiß ich so genau, weil es auf dem Stück Papier steht, das der israelische Grenzbeamte in meinen Pass gelegt hat. Papiere, keine Stempel. Damit ich es so aussehen lassen kann, als hätte ich dieses Land, mit dem ich mich monatelang so intensiv befasst hatte, nie betreten. Denn leider gibt es tatsächlich noch Länder, die einem mit einem israelischen Stempel im Pass die Einreiseverweigern.

Es fällt mir schwer, meine Augen offen zu halten. Der Zug, in dem wir sitzen, rauscht beinahe geräuschlos durch die nächtliche Welt. Es ist eigenartig still. Ich blicke hinüber zu Leonie, die sich im Sitz mir gegenüber zusammengekauert hat. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund steht leichtoffen; sie schläft tief und fest. Kein Wunder, nach dem langen Flug. Meine Augenlider werden immer schwerer. Den Mann mit dem Maschinengewehr, der plötzlich unseren Wagen betritt undversucht, sich an unseren Koffern vorbeizuschlängeln, bemerke ich nur aus den Augenwinkeln.

Als ich die Augen wieder aufschlage, geht gerade sie Sonne auf. Schön sieht das aus, irgendwie ganz anders als Zuhause. Als die ersten ihrer Strahlen auf das Zugfenster treffen, fängt der Staub auf der Scheibe an zu glitzern.

Früh morgens ist Naharija eine eigenartige Stadt. Es ist bereits halb acht, und trotzdem ist keine Menschenseele zu sehen; kein Auto fährt vorbei. Nur ein älterer Mann humpelt über die Straße und zieht einen riesigen Haufen Pappkartons hinter sich her. Bis der Bus kommt, der uns nach Nes Ammim bringen wird, sind es noch über zwei Stunden. Wir beschließen, uns die Gegend etwas genauer anzusehen.

Wir finden einen Laden, indem allerlei exotische Lebensmittel angeboten werden. Während wir noch überlegen, worum es sich bei den einzelnen Substanzen wohl handelt, werden wir von der Ladenbesitzerin – zwar mit unverständlichen Worten, aber unmissverständlicher Körperhaltung – aus dem Laden dirigiert. Wer nichts kaufen will, ist hier unerwünscht.

Im Bus beobachte ich fasziniert, wie sich das Wasser, das irgendwie zwischen die Scheiben deszweifach verglasten Busfensters geraten ist, hin und her bewegt, wann immer der Busfahrer bremst oder anfährt. Wir lachen darüber.

Unsere erste Nacht verbringen wir in Nes Ammim, einer kleinen christlichen Gemeinde unweit von Naharija. Hier spricht jeder Deutsch; es ist ein schönes und friedliches Fleckchen Erde. Wir erfahren viel über die Ursprünge des Christentums und über den deutsch-israelischen Dialog, der hier gefördert wird. Und nicht zuletzt ist genau das der Grund, warum wir hier sind.

Nes Ammim wirkt auf mich wie ein Garten Eden; auf endlosen Wegen kann man spazieren gehen und entdeckt immer neue Dinge, das eine Mal ein kleines Haus aus Backsteinen, das andere Mal eine Bank, die in einen Baum eingewachsen ist. Dann ein kleines Gotteshaus, in dessen Vorhof ein Teich angelegt wurde. Es ist niemals still hier. Es gibt viele Kinder und auch Jugendliche, die in Gruppen tanzen und singen oder gemeinsam im Gras sitzen und die Sonne genießen. Ich beginne zu verstehen, warum dies ein Ort des Friedens ist, an dem die Unterschiede und die Konflikte zwischen verschiedenen Religionen und Völkern keine Rolle spielen. Ich jedenfalls hätte es nichtfertiggebracht, an diesem Ort Hass zu empfinden. Die Bewohner von Nes Ammim sind wie eine große Familie, die jeden Gast gleichermaßen herzlich bei sich aufnehmen.

Als ich meine Austauschpartnerin am nächsten Tag wiedersehe, ist es beinahe so, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen, obwohl es bereits etwa neun Monate her ist, seit die israelische Delegation uns in Deutschland besucht hat. Bei ihr zuhause im Kibbuz Shimshit angekommen, staune ich nicht schlecht. Mir fällt auf, dass sich am Eingang ein großes Tor befindet. Nicht jeder kann die Siedlung betreten. Das Haus meiner Austauschpartnerin ist schön, weiß mit einem flachen Dach aus roten Ziegeln. Ich habe eine ganze Etage nur für mich, inklusive einem eigenen Badezimmer.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen, welches direkt am Fenster steht und weicher ist als jedes andere Bett, auf dem ich je gelegen habe. Noch weiß ich nicht, dass ich es in den nächsten zehn Tagen kaum zu sehen bekommen werde.

Zehn Tage.

Zehn Tage vergehen viel schneller, als man denkt. Und letztendlich wird alles zu einem einzigen Strom aus Erlebnissen und Erinnerungen. Im Nachhinein kommt es mir vor wie ein Traum. Die Herzlichkeit und die Offenheit der Menschen, die ich getroffen habe, ist mir auch heute, etwa ein Jahr später, noch immer im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich an die Mutter einer israelischen Schülerin, die vor unserer gesamten Delegation eine Rede darüber gehalten hat, wie froh sie ist, dass wir hier sind. Wir, die Nachfahren einer Gesellschaft, die einen Völkermordbegangen hat. Wie sehr sie fühlt, dass unsere Schicksale für immer miteinander verbunden sind.

Hätte man mich vor dem Austausch gefragt, was ich mit dem Land Israel verbinde, hätte ich wahrscheinlich geantwortet: viele jüdische Menschen. Jerusalem. Und, ach ja, irgendwas mit Jesus. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, Israel ganz oben auf meine Liste der Länder, die ich unbedingt bereisen will, zu setzen. Heute steht Israel ganz oben auf der Liste der Orte, die ich am meisten vermisse, und an die ich die schönsten Erinnerungen habe.

Für viele junge Menschen meines Alters ist Israel ein Niemandsland. Junges Blut will nach Amerika, oder nach Thailand. Shoppen in New York, Sonnenbaden in Ko Phuket.

Den meisten geht es dabei um nichts anderes als darum, die Seele baumeln zu lassen und alles um sich herum zu vergessen. Dabei sind es gerade die Menschen und die Dinge um einen herum, die eine Reise unvergesslich machen. Hätte ich mich in Israel gehen lassen, hätte ich heute nichts als ein paar Urlaubsfotos unter Palmen und verschwommene Erinnerungen an Partynächte in den Clubs von Tel Aviv.

Aber ich habe viel mehr erlebt. Ich habe viel mehr zu erzählen.

Ich kann von den vielen lachenden Gesichtern erzählen, ohne die meine zehn Tage in Israel nicht viel wert gewesen werden. Ich kann davon erzählen, wie ich mitten in der Wüste bei den Beduinen am Lagerfeuer saß, unglaublich guten Tee getrunken habe und es mir vorkam, als könnte ich jeden einzelnen Stern am Himmel sehen. Ich kann davon erzählen, wie ich hinter meiner besten Freundin auf einem Kamel saß, durch die Wüste ritt und mich fragte, welche glorreiche Verkettung von Entscheidungen mich wohl an diesen Ort gebracht hatte, in diesem Moment, auf den Rücken eines Tieres, das ich bisher nur im Zoo gesehen hatte. Ich kann davon erzählen, wie ich auf der Stadtmauer von Akkon saß, den Blick auf das Meer gerichtet und den Geschmack von Avocado im Mund. Ich will davon erzählen, wie ich in Yad Vashem in der abgedunkelten Halle der Kinder stand und zum ersten Mal gespürt habe, welches Leid die Deutschen damals über die Juden gebracht haben. Worte und Erzählungen sind das eine, aber an einem solchen Ort der Erinnerung zu sein und die Geschehnisse aus der Perspektive der Opfer zu betrachten, gibt einem erst ein Gefühl für die Tragweite der Verbrechen der Nationalsozialisten.

Auch von diesen bedrückenden Erlebnissen will ich erzählen. Meine Austauschpartnerin erzählte mir einmal, dass es Beschwerden darüber gab, dass in Yad Vashem Flaggen mit Hakenkreuz-Abbildungen ausgestellt werden. Der Schmerz sitzt tief, und das spürt man in jedem Winkel von Yad Vashem, der Festung auf dem Berg.

Ich habe mich nicht schuldig gefühlt. Ich weiß, dass ich keine Schuld trage für das, was passiert ist. Aber ich weiß, dass ich, dass wir alle ein schweres Erbe in die Wiege gelegt bekommen haben, und dass es an uns ist, dieses Erbe zu respektieren und dafür die volle Verantwortung zu übernehmen.

Yad Vashem ist ein Ort der Trauer, aber vielmehr auch ein Ort der Mahnung. Man spürt die Bedrängnis in den kahlen Wänden und spitz zulaufenden Dächern. In Yad Vashem ist es wichtig, nicht die Masse der Opfer zu betrachten, sondern jeden der Toten als individuelle Persönlichkeit zu betrachten, jedem einen Namen zu geben. Nicht umsonst bedeutet Yad Vashem wörtlich übersetzt „Denkmal und Name“.

Ich will erzählen von den Begegnungen mit Menschen, die so ganz anders leben als wir, aber sich letztendlich kaum von uns unterscheiden. Ich glaube sogar, dass die Israelis in vielerlei Hinsicht offener sind als die Deutschen. An einem Abend saß ich mit meiner Austauschpartnerin in einem kleinen Pavillon am Rande von Shimshit. Es war eine laue Nacht, nicht so schwül wie am Tage, aber dennoch angenehm warm. Es war bereits dunkel, und man konnte unendlich weit sehen, da der Pavillon direkt an einem steilen Hang stand und man über ein weites Tal blicken konnte; weiterhinten sahen wir die Lichter einer Stadt. Wir ließen unseren Blick schweifen, und ich begann, Fragen zu stellen. Ich fragte alles, was mir so in den Sinn kam. Über ihr alltägliches Leben, ihre Familie, ihre Freunde. Wir redeten über die Zeit des Nationalsozialismus, und inwiefern ihre Familie darin involviert gewesen ist. Wir redeten über den Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern, und über die Beziehungen zwischen den jüdischen und den muslimischen Israelis. Sie erzählte mir, dass ihre große Schwester bereits einige Zeit bei der Armee ist. Für mich ist es befremdlich, wenn ich darüber nachdenke, dass israelische Jugendliche in meinem Alter bereits wissen, wie man mit einem Maschinengewehr umgeht.

Das Leben der israelischen Jugendlichen ist so ganz anders als meins, und trotzdem verstehen wir uns blendend. Meine Austauschpartnerin wirkt oft nachdenklich, und sie ist so ein Mensch, mit dem man sich stundenlang unterhalten kann, ohne dass es langweilig wird. Sie ist lustig, aber nie kindisch. Auf mich wirkt sie um einiges erwachsener als ich es bin.

Ich habe viel erlebt in diesen zehn Tagen. Ich stand vor der Klagemauer, hab mich auf dem Toten Meer treiben lassen, bin über die Märkte von Tel Aviv geschlendert. Ich bin eingetaucht in eine Kultur, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Ich habe wirklich alte Gebäude betreten, unter anderem auch die Grabeskirche in Jerusalem, und habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Wüste gesehen. Ich habe mich darüber gewundert, dass der nette Verkäufer auf dem Basar fließend Deutsch gesprochen hat. Ich habe Käfer gesehen, die so groß waren wie Flummis. Ich habe unglaublich gute, aber auch merkwürdige Dinge gegessen, deren Geschmack ich sehr vermisse. Ich habe mir die Füße tagsüber in Tel Aviv wund gelaufen und abends auf einer Waldparty wund getanzt. Aber vor allem habe ich einen bunten Haufen unglaublicher Menschen kennengelernt, die ich nie im Leben vergessen werde.

Chaim sheli. So haben uns die israelischen Mädchen immer genannt. Ein Ausdruck, der mir im Gedächtnis geblieben ist, aus einem einfachen Grund. Er bedeutet Offenheit, Sympathie, Zuneigung, und vor allem: Freundschaft. Und dieses Erlebnis der Freundschaft ist, wovon ich am liebsten erzähle.

Und ich könnte noch so viel mehr erzählen.

Um genau 15:17 Uhr habe ich den Staat Israel offiziell verlassen. Das weiß ich so genau, weil es auf dem Stück Papier steht, das der israelische Grenzbeamte in meinen Pass gelegt hat.

Noch wird dieses wundervolle Land nicht von allen Staaten völkerrechtlich anerkannt. Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft ändern wird. Das wäre ein weiterer Schritt hin zu einer gemeinschaftlichen und friedlicheren Welt.


Jana Prestrich, 18 Jahre
hat an einem deutsch-israelischen Schulaustausch teilgenommen und in diesem Rahmen im März 2017 für zehn Tage Israel besucht.