Olivia Schübel / 17 Jahre

Ani ohevet Israel

Ich erinnere mich noch daran, als ob es gestern gewesen wäre. Am 22.01.2017 lag ein Brief für mich im Briefkasten. Ein Brief für mich? Ja, das war auch für mich sonderbar, denn keiner meiner Freunde schrieb heutzutage noch Briefe. Doch als ich ihn in der Hand hielt und den Absender sah, machte mein Herz einen Sprung. Der Brief kam von der Organisation, durch die ich an einem dreiwöchigen Austausch mit Israel teilnehmen wollte. Ängstlich öffnete ich den Umschlag. Was, wenn sie mich nicht genommen haben? Doch meine Angst war unbegründet. Die Organisation hatte mir eine Teilnehmerliste und den groben Ablauf des Austausches gesendet. Am 28.07.2017 sollte es für die deutschen Teilnehmer in Berlin losgehen. Und das halbe Jahr bis dahin verging wie im Flug. Aufgeregt empfingen wir die israelische Delegation in Berlin – als Zeichen unseres Austausches hatten wir uns die Flagge Israels ins Gesicht gemalt und uns alle blau-weiß angezogen. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass Israelis viel lauter sind als Deutsche, denn sie schrien uns förmlich an, als sie aus dem Bus stiegen. Nicht selten gingen sie außerdem in den Straßen Berlins verloren, weil sie nicht am ausgemachten Treffpunkt warteten. Doch es fiel auch auf, dass sie sehr hilfsbereit sind und gerne teilen. In vielen Situationen hatte ich das Gefühl, dass sie ihr Essen erst glücklich genießen können, wenn sie mindestens ein Viertel davon jemand anderem gegeben haben. Die eine Woche, die wir mit den Israelis zusammen in Berlin hatten verging sehr schnell und ehe ich genauer darüber nachdenken konnte, verließen wir Berlin auch schon wieder. Besonders aufregend war der Sicherheitscheck am Flughafen. Ein Beamter stellte mir Fragen, als wäre ich ein Verbrecher, unter anderem auch, ob ich eine Bombe dabei hätte oder mir vielleicht jemand ein Geschenk gegeben hat, das eine Bombe sein könnte. Ich verneinte dies natürlich. Im Flugzeug angekommen stieg die Aufregung enorm. Ich konnte den ganzen Flug kein Auge zu machen und rutschte unruhig in meinem Sitz umher. Am 08.08.2017 setzte ich dann endlich das erste Mal einen Fuß auf israelischen Boden. Eine mir inzwischen sehr vertraute israelische Freundin fragte mich sofort: „Und? Was sagst du? Wie findest du es hier?“ Ich schmunzelte. Nach drei Minuten in diesem Land konnte ich dies ja schwer beurteilen. Also sagte ich nur: „Alles was ich bisher gesehen habe ist unglaublich.“ Zufrieden nahm sie meine Hand und zog mich zum Bus, der uns zum Flughafengebäude bringen sollte. In der Enge des Busses an die anderen gedrückt, lächelte ich. Sie sind schon jetzt wie eine zweite Familie für mich und ich wollte gar nicht daran denken, alle diese Menschen zu verlassen. Meine israelische Freundin kam sofort in ein Gespräch mit zwei Mädchen unseres Alters, die in unserer Nähe standen. Die Offenheit der Israelis hatte mich schon von Tag eins beeindruckt. Nachdem wir unsere Koffer geholt hatten, zog meine Austauschpartnerin mich hinter sich her, da ihre Mutter am Flughafen auf sie wartete um ihr etwas zu bringen, das sie zu Hause vergessen hatte. Schnell wurde klar, dass ihre Familie auch total offen und nett ist. Ich wusste, dass ich sie am Ende der Woche besser kennenlernen würde, wenn wir in Gastfamilien aufgeteilt werden. Doch jetzt stiegen wir in den klimatisierten Bus, der uns nach Jerusalem bringen sollte. Staunend schaute ich die ganze Fahrt aus dem Fenster. Das Land war wirklich wunderschön. Ein Mädchen hatte sich in Berlin eine Ukulele gekauft und so sangen wir, bis wir eine kleine Pause einlegten um zu Essen. Mein Magen knurrte so sehr, dass es mir sowieso egal war, was wir zu Essen bekamen. Doch es stellte sich heraus, dass wir als erste Mahlzeit im Heiligen Land gleich etwas sehr typisches bekommen werden. Meine Freundin erklärte mir, dass wir Falafel essen werden und fragte mich ob ich wisse, was das ist. „Gehört habe ich es schon mal“, antwortete ich ihr, „aber ich habe es noch nie probiert.“ Ungläubig sah sie mich an. Für sie war es unvorstellbar wie man in 17 Jahren noch kein Falafel gegessen haben konnte. Da der Imbissbesitzer nur Hebräisch sprach, unterstützte sie mich beim Bestellen. Die Falafel wurden in ein Pitabrot gelegt und zudem konnte man sich aussuchen, welche Soße und welches Gemüse in das Brot sollten. Glücklich saßen wir danach in der Sonne, aßen unsere Falafel und tranken hausgemachte Zitronenlimonade. Der Betreuer der Israelis nahm die Deutschen außerdem mit zum Geldwechseln, denn in Israel bezahlt man mit Schekeln. Nachdem wir am Abend einen großzügigen Vorrat Wasser gekauft hatten, um bei 35 Grad tagsüber nicht zu verdursten, fielen alle erschöpft ins Bett. Nicht nur die Sonne, auch das tagtägliche Englischsprechen und das viele Wandern – noch eine Sache, die Israelis gerne zu machen scheinen – zerrte an unseren Kräften.

Die restliche Woche verging mindestens so schnell wie die Woche in Berlin. Da wir durch den Austausch vor allem die Beziehung zwischen Deutschland und Israel vermittelt bekommen sollten, besuchten wir am nächsten Tag die wohl bedeutendste Gedenkstätte, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert: Yad Vashem. Um uns die Thematik in unserer Muttersprache näherzubringen teilten uns unsere Betreuer in eine deutsche und eine israelische Gruppe. Die Atmosphäre im Museum war erdrückend. Natürlich muss man sich als deutscher Schüler jedes Jahr aufs Neue mit der Judenvernichtung und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, aber nichts berührte mich so sehr, wie die zahlreichen Bilder an den Wänden. Dabei dachte ich vor allem über meine neugewonnenen israelischen Freunde nach und fragte mich, wie Deutsche diesen Menschen so abwertend gegenübertreten konnten. Wie schon den ganzen Austausch fragte ich mich auch jetzt wieder, was die Israelis wohl heute noch für ein Bild von uns hatten und ob sie auch unsere Generation noch verantwortlich für das Geschehene machen. Mitten im Grübeln trafen mich vor allem die Worte der deutschen Fremdenführerin hart: „Ihr dürft euch jetzt nicht wundern, wenn sich eure israelischen Freunde von euch abwenden. Schließlich haben sie sich gerade das gleiche angeschaut und ihr seid nun einmal die Kinder der Täter.“ Kinder der Täter? Ich dachte ich hatte mich verhört. Doch als ich auf die geschockten Gesichter der anderen schaute, wusste ich, dass es nicht so war. Und auch sie wussten, dass unsere Eltern und zum großen Teil auch unsere Großeltern gar nicht in dieser Zeit gelebt haben oder noch Kinder waren. Mit einem mulmigen Gefühl erwarteten wir das Ende der israelischen Führung, da unsere zuerst endete. Was werden sie sagen? Wie werden sie jetzt mit uns umgehen? Doch alles war normal, als sie aus der Ausstellung kamen und sich zu uns setzten. Erleichtert nahm ich meine Freundin in den Arm, die das Ganze noch mehr mitzunehmen schien als mich. Gemeinsam gingen wir durch das „Denkmal für die Kinder“. Mir kamen fast die Tränen, als unser Betreuer uns erzählte, dass das Band, das die Namen der gestorbenen Kinder aufsagt, ungefähr drei Monate braucht, bis es einmal komplett durchgelaufen ist. Den restlichen Tag verbrachten wir mit freier Zeit in Jerusalem, die uns von unseren Eindrücken aus Yad Vashem ablenken sollte. Doch noch am Abend dachte ich viel darüber nach. Ich kam dabei zu dem Entschluss, dass Austausche dieser Art ein guter Weg sind, um in unserer Generation die zwei Länder wieder zusammenzuführen.

Die nächsten Tage verbrachten wir in Jerusalem, bevor wir unsere Bleibe wechselten und einen Tag in der Wüste und am Toten Meer verbrachten. Am Abend aßen wir in der Wüste und obwohl es schon fast Mitternacht war, war es noch so warm, dass man mit kurzer Hose und T-Shirt herumlaufen konnte. Zum Abschluss machten wir Marshmallows über dem Lagerfeuer. Die Nacht in unserer Jugendherberge mitten in der Wüste in Masada war sehr kurz, da wir um fünf Uhr in der Früh den Sonnenaufgang sehen wollten. Da weit und breit kein Haus und keine Straße war, konnte man der Sonne ungestört zusehen, wie sie über den Himmel wanderte. Es war wunderschön. Wir packten danach unsere Sachen und fuhren nach Tel Aviv. Von dort aus fuhren wir mit unseren Austauschpartnern zu unseren Gastfamilien. Meine Austauschpartnerin und ich verstanden uns von Anhieb an, denn anstatt von den Betreuern Partner zugewiesen zu bekommen, durften die Israelis frei wählen, wen sie über das Wochenende bei sich zu Hause haben wollten. Den Freitagabend verbrachte ich also bei ihrer Familie und sie zeigten mir, wie sie den Sabbat willkommen heißen. Ihr Vater las aus der Thora vor, während meine Freundin mir immer wieder hebräische Begriffe zuflüsterte, die die Familie an bestimmten Stellen im Chor sagte. Abends zeigte meine Freundin mir alles, was ich in ihrem Heimatsort Herzliya sehen musste. Am Sabbat trafen wir uns mit den Leuten vom Austausch, die ganz in der Nähe von Herzliya wohnten und gingen gemeinsam zum Strand. Es war das erste Mal, dass wir in Israel am Strand waren. Voller Vorfreude hüpften wir umher und warteten nur darauf endlich in das kühle Wasser springen zu können. Die Wellen waren ziemlich hoch und Viele wurden ein paar Mal ordentlich untergetaucht, aber wir hatten so viel Spaß, dass wir gar nicht bemerkten, dass die Sonne schon langsam unterging. Da meine Austauschpartnerin unbedingt noch mit mir shoppen gehen wollte, fuhren wir sofort vom Strand zu einem großen Shoppingcenter. Auffallend waren dort vor allem die hohe Präsenz amerikanischer Marken und die langen Öffnungszeiten, denn wir kauften bis um 22 Uhr ein. Danach aßen wir Shakshuka, ein weiteres israelisches Nationalgericht. Außerdem ging ich mit meiner Austauschpartnerin ins Kino, da Filme in Israel nicht synchronisiert werden, sondern im englischen Original mit hebräischen Untertiteln laufen.

Und dann kam auch schon der Tag, an dem es Zeit war, Abschied zu nehmen. Im Arm meiner Freundin liegend, fing ich auf einmal an zu weinen, da ich darüber nachdachte, wann und ob ich sie wiedersehen würde. Denn die meisten traten schon im darauffolgenden Jahr ihren Militärdienst an, der in Israel für alle Bürger verpflichtend ist.

Auch heute denke ich noch sehr viel an meine neugewonnenen Freunde. Durch das Internet haben wir fast täglich Kontakt miteinander und auch, wenn das nicht die persönliche Kommunikation ersetzt, ist es dennoch immer wieder ein sehr schönes Gefühl mit ihnen über Gott und die Welt zu reden. Und die Frage, ob ich wieder nach Israel reisen würde, kann ich heute ganz klar mit „Ja!“ beantworten. Denn nicht nur die vielen historischen Facetten, sondern auch die persönlichen Kontakte, die ich dort knüpfen durfte, werden mich immer wieder zu einer Reise in das Heilige Land bewegen.


© Olivia Schübel

Olivia Schübel, 17 Jahre
hat im Sommer 2017 im Rahmen einer deutsch-israelischen Jugendbegegnung zum ersten Mal Israel besucht.