Corina Martinas / 44 Jahre

Geschichten aus Jerusalem

Echtes Cashmere

Schon wieder verlaufe ich mich in der Altstadt von Jerusalem. „Suchen Sie noch das Jaffa Tor?“. Der Ladenbesitzer lacht als ich aufschrecke. Und spätestens dann merke ich, dass mir diese Straßen immer ein Rätsel bleiben werden. Auf jeden Fall ist er nun so froh, meine Schwäche zu kennen, dass er sogar vergisst, mir seine Ware anzubieten. Als nächstes aber ruft mir ein anderer Verkäufer zu, dass er mich gerne mit seinem Auto zum Tor bringen kann. Der nächste meint, er hat sich gerade verliebt und ich muss eine Tasse Kaffee probieren. Ein anderer ist vielleicht Single, also möchte der nächste mich heiraten. So viele Wörter in nur ein paar vorbei huschenden Schritten. Es braucht bestimmt langjährige Übung im Verkauf von Fakes und Replikas, bis dann am Ende jedes Wort eine Fälschung ist. Jede Begegnung ein Spiel.

Nur dass ich heute doch kaufen möchte. Denn ich brauche ein Geschenk, etwas Besonderes, Kostbares und, natürlich, Echtes. Dennoch renne ich durch die engen Gassen und versuche ja niemanden anzugucken.

Als ich in seinen Laden eintrete sitzt er ruhig in einem Sessel und nimmt sich erst einmal Zeit, mich still zu begrüßen, bevor er aufsteht. Nun bin ich umgeben von Seide, Brokat, Damast, Samt, Cashmere…

„Du scheinst aber nicht zu wissen, dass ich berühmt bin“, sagt er nach einer Weile. „Warum bist du denn reingekommen?“
„Hm, vielleicht weil du gar nicht versucht hast, mir deine Ware aufzudrängen. Du sitzt nicht vor der Tür und versuchst Vorbeigehende mit schnellen Worten aufzuhalten.“
„Weil ich das nicht nötig habe. Ich habe die besten Stoffe im ganzen Nahen Osten!“

Als ich später Zeitungsartikel über ihn lese erfahre ich, dass er tatsächlich die letzte Seide von Palmira in seinen Regalen aufbewahrt und große Modehäuser beliefert oder ja, sogar für den Papst mal etliche Meter Brokat verkauft hat. Hier kaufen wichtige Rabbis ihre koscheren Stoffe, die aus ungemischten Fäden bestehen und gläubige, gut betuchte Juden finden hier die mit Gold und Edelsteinen verzierten Tücher, die sie der Synagoge in ihrer Gemeinde spenden können. Hier bestellen palästinensische Frauen die traditionellen, handbestickten schwarz-roten Kleider, die sie bei Hochzeiten und anderen großen Zeremonien anziehen. Auch einige christlich-orthodoxe Priestergewänder hängen fertig genäht über einem Regal. Und für das normale Volk gibt es Seide und Gold in verschiedenen Variationen.

Dann zeigt er mir echtes Cashmere:

„Weißt du, wie man es testet?“, fragt er mich.
„Einen Faden anbrennen?“
„Und die andere Methode?“
„Das kenne ich nicht.“

Er nimmt seinen Ehering ab und zieht dann, ganz vorsichtig, einen ganzen, großen Cashmere Schal dadurch. Von einem Ende zum anderen.

„Siehst du? Eine Fälschung würde in der Mitte stecken bleiben. Du hast also zwei Möglichkeiten, es zu testen. Welche ziehst du denn vor?“
„Das Feuer“, sagte ich.
„Ich wusste es!“

Wir lächeln beide und beabsichtigen, uns wiederzusehen. Große Worte. Inschalla!

 

 

 

 

Drei Gesichter meiner Seele oder Nathan der Weise reloaded

Karfreitag in Jerusalem! Mein erster Gedanke war zu fliehen: einfach ans Meer fahren, am Strand liegen und nichts tun. Aber dann habe ich mich an die Amateurdarsteller erinnert, die bei der Prozession Jesus spielen und manchmal nicht mehr aus der Rolle raus kommen. Und war neugierig. Das wollte ich doch sehen. Doch wie naiv von mir zu erwarten, sie inmitten von tausenden Touristen und Pilgern zu treffen. Dennoch trat ich in die Altstadt ein, nur mit einer Welle von Menschen mitgerissen zu werden. Und blieb kurz darauf stehen. Die Armee fing schon an, die Straßen zu sperren, eine nach der anderen. Jeder Versuch voranzukommen war nun zwecklos. Der einzige Ausweg schien zu sein, ein Geschäft aufzusuchen, aber es war mir nicht wirklich danach. Plötzlich konnte ich mich aber gar nicht mehr bewegen, denn der Strom der Leute stagnierte und ich konnte weder vor noch zurück. Ich atmete tief ein und guckte mich um. Und sah ihn: sehr alt und dürr, am Eingang eines Antiquitätengeschäfts. Seine Augen lächelten mich ruhig an. Er bat mich, einzutreten. Das tat ich und blieb da für zwei Stunden, trank Kaffee und hörte ihm zu. Er bot mir die Geschichte seines Herzens als junger Mann an. Hier ist sie, in seinen eigenen Worten:

Vor langer Zeit, als ich 25 war, habe ich ein jüdisches Mädchen kennengelernt. Ich bin Moslem. Sie hat mich sehr geliebt. Und ich habe sie auch geliebt, in jeder Hinsicht. Wir trafen uns sehr oft, ein Jahr lang. Sie hat mich sogar ihren Eltern vorgestellt. Und nach einem Jahr, dann hatte ich gerade Geburtstag, kam sie mit einem Geschenk. Ich habe es genommen und beiseite gelegt.

„Öffnest du es nicht?“, hat sie gefragt. „Warum nicht?“
„Weil ich weiß, was drinnen ist.“
„Du weißt es?“
„Es ist ein Buch: ‚Wie werde ich jüdisch‘”.

Sie ist dann sehr bleich geworden, denn ich hatte recht. Und ich habe ihr dann gesagt:

„Was du nun von mir verlangst ist, zwei Drittel meiner Seele aufzugeben. Denn ich bin Jude, Christ und Moslem, alles zusammen. Ich kann nicht nur das Eine sein.“

Sie war sehr traurig, das sie hatte nicht erwartet. Also ist sie gegangen. Und wir haben uns nicht mehr gesehen, 15 Jahre lang. Nach 15 Jahren ist sie dann eines Tages in mein Geschäft reingekommen. Sie hat mich angeguckt und gesagt:

„Es hat lange gedauert, aber jetzt habe ich verstanden, was du mir damals gesagt hast.“

Ja, das hat sie gesagt. Natürlich war sie jetzt verheiratet und hatte Kinder. Aber sie war nicht… erfolgreich.

Ich bedankte mich für die Geschichte. Und für den Kaffee. Und für den Ort, voller Erinnerungen aus Silber und Kupfer. Er bat mich, ein Geschenk anzunehmen. Er kramte dann aus einer Ecke einen seidenen Beutel heraus. Aus dem Beutel dann einen Davidstern aus grünem Jade.

„Also dann…“… sagte ich. „Ich war auf der Suche nach der christlichen Passion…“
„Und hast einen Moslem gefunden, der dir einen Davidstern geschenkt hat.“
„Genau! Toda!“


Corina Martinas, 44 Jahre
lebte 2017 für ein halbes Jahr in Jerusalem und arbeite als Volontärin in einem Hospiz.