Hannah Stobbe / 29 Jahre

Die Israelis

Ankunft

Heiner hat es nicht leicht. Seit einigen Monaten liegt er nahezu täglich auf dem Röntgentisch. Pausenlos wird er auf verdächtig anmutende Symptome untersucht und akribisch durchleuchtet. Beschwerden hat er eigentlich keine. Hier und da ein leichtes Schweregefühl in der Magengegend vielleicht, aber wirklich nichts Ernstes. Die Untersuchungen? – Reine Routine. Kontrolle ist schließlich besser als bloßes Vertrauen. Jetzt muss Heiner aber erst mal auf die Waage. Sein Übergewicht lässt sich heute leider nicht leugnen.

Heiner, so habe ich irgendwann meinen knallroten Rucksack getauft, der mich seit einiger Zeit auf meinen Reisen zwischen Deutschland und Israel begleitet. Zahllose neue Gesichter und Geschichten, die uns hier Tag für Tag begegnen. Seit ich in Jerusalem studiere, sehe ich die alten vertrauten Menschen und Orte in Deutschland nur noch in den Semesterferien.

Zeit für Freunde und Familie, aber auch für Rotkohl mit Klößen und unkoschere Mortadellabrötchen. Auch mein roter Reisebegleiter schlägt sich in Deutschland regelmäßig den Bauch voll. Wenn ich mit Heiner zurückfliege, sieht er meist aus wie eine dm-Filiale im Kleinformat.

Jede verfügbare Seitentasche wird genutzt, um Heiner mit Tampons, Make-up und anderen Hygieneartikeln vollzustopfen, die in Israel schier unbezahlbar sind.

Und so stehen wir auch nun wieder am Flughafen, kurz vor der Handgepäckkontrolle.

Die Zeit in Deutschland ist um. Wir stehen am Flughafen, kurz vor der Handgepäckkontrolle.

Heiner wiegt neuneinhalb Kilo. Anderthalb Kilo zu viel, um dem prüfenden Blick der Flughafensicherheit kommentarlos zu entkommen. Wir müssen uns entscheiden. Entweder, Heiner verbringt den Flug mutterseelenallein im Frachtraum und kostet mich ein Vermögen, oder aber, ich verpasse meinem Gefährten eine Expressdiät und lasse drei Zehnerpacks Milchschnitten in Deutschland. Beides keine zufriedenstellenden Aussichten. Stattdessen kommt mir die glorreiche Idee, mich mit Heiner auf die Damentoilette zu verziehen, um nach einer anderen Lösung zu suchen.

Dort beschließe ich kurzerhand, den ein oder anderen schweren Gegenstand unbemerkt verschwinden zu lassen. Ein kleines Buch passt in die Innentasche meines Mantels, zwei dicke Wälzer nehme ich – ziemlich unauffällig – einfach in die Hand. Das wuchtige Netzkabel meines Laptops knote ich mir kurzentschlossen um den Bauch. Gar nicht mal so schlau von mir.

Schließlich wartet kurz hinter dem freundlichen Rucksackkontrolleur der Metalldetektor auf mich Wie ich den mit einem Kabel um den Bauch passieren soll, ohne wenig später als potentielle Selbstmordattentäterin festgenommen zu werden, habe ich mir noch nicht überlegt.

Erst Mal müssen Heiner und ich es schaffen, den Hüter der Waage von einem offensichtlichen Gewichtsverlust zu überzeugen. Hoffnungsvoll blicke ich auf die rot leuchtende Anzeige. Eigentlich ist Heiner noch immer zu schwer. Er wiegt jetzt achteinhalb Kilo. Schmunzelnd blickt der Mann von der Flughafensicherheit auf die zwei Bücher in meiner Hand und drückt beide Augen zu, als er Heiner und mich endlich gehen lässt.

Ich atme auf. Mache ein paar Meter vor dem Metalldetektor erneut Halt, um das Netzkabel möglichst schnell und unauffällig zurück in den Rucksack zu befördern. Geschafft. Keine Verhaftung. Kein Gewichtsverlust. Endlich sitzen Heiner und ich trotz anderthalb Kilo Übergepäck glücklich und erleichtert im Flieger zurück nach Tel Aviv. Viereinhalb Stunden später glitzert unter uns das Mittelmeer mit ein paar Wolkenkratzern um die Wette.

Wir sind wieder da.

 

Alltag

„Guten Morgen Sarah! Wie geht es dir?” Khaled lächelt mich an. So wie jeden Morgen, an dem ich in der Kaffeeschlange meiner Uni stehe, um einen Cappuccino bei ihm zu bestellen. „Alles in Ordnung, wie geht es dir?”, antworte ich inzwischen routiniert, obwohl ich gar nicht Sarah heiße. Am Anfang des Semesters war das noch anders. Zwei, drei Mal habe ich ihn noch korrigiert. „Khaled”, habe ich gesagt, „ich heiße Hannah, nicht Sarah”. Er hat wahrscheinlich kurz gelächelt, es sich aber nie gemerkt. Irgendwann wurde mir klar, dass in Israel außer mir und ein paar anderen Ausländerinnen nur Omas und Ultraorthodoxe biblische Namen tragen.

„Sarah, Hannah, Esther – was macht das schon für einen Unterschied?”, muss er sich wohl gedacht haben. Also gab ich es auf.

Jeder Morgen beginnt mit einem großen Cappuccino  zum Mitnehmen. Manchmal ist er schon fertig, wenn ich komme. „Wie immer, Sarah?”, fragt er dann strahlend. „Wie immer!”, antworte ich meist noch müde und lasse zwei Tütchen Zucker in den Milchschaum rieseln. Einen ganz gewöhnlichen Cappuccino bestellen außer mir sonst nur die anderen Esthers, Sarahs und Hannahs aus dem Ausland. Eine echt israelische Kaffeebestellung – so habe ich es in meiner jahrelangen israelischen Kaffeeschlangenkarriere gelernt – klingt nämlich ungefähr so: „Guten Morgen, ich hätte gerne einen Cappuccino. Kochend heiß muss er sein, aber bitte nicht zu stark. Hast du Sojamilch? Und könnte ich etwas Sahne in einem zusätzlichen Kännchen bekommen?” Ein echter israelischer Kaffee besteht ein bisschen aus gemahlenen Bohnen, und ziemlich viel aus allerlei Extrawünschen.

Am Eingang der Cafeteria sitzen drei Katzen, die auf dem Campus ein Zuhause gefunden haben. Zwischen Palmen und Audimax sind sie die Könige der Uni. Eine von ihnen begleitet mich bis in den Klassenraum. Mit einem Satz hüpft sie auf den Schoß meines Dozenten. Er krault sie ein bisschen am Nacken und blickt prüfend in die Runde. „Ist Natalia heute anwesend?”, fragt er. „Nein, ist krank”, antwortet jemand. Natalia kann Katzen nicht ausstehen. Ist sie da, muss die Katze gehen. Aber sie ist nicht da, und deshalb darf die Katze bleiben. So vergeht eine ganz gewöhnliche Unterrichtsstunde in Jerusalem, während das schwarze Fellknäuel ohne Namen in der Klasse umherschleicht und leise miaut.

Einige Stühle sind heute wieder einmal leer geblieben. Aus Gaza fliegen Raketen, manchmal bis nach Tel Aviv. Israel antwortet mit Luftangriffen und einer neuen Militäroperation. Es ist Sommer, es ist Krieg. Die letzte Bodenoffensive hat so manchen Kommilitonen aus dem Alltag gerissen. Miluim – Reservedienst. Während ich versuche, zwischen Raketenalarmen und Newsticker meine Masterarbeit zu schreiben, verbringen sie die letzten Tage des Semesters im Gazastreifen.

Noch bin ich hier. Am Strand von Tel Aviv, auf den Straßen Jerusalems, in der Wüste am Toten Meer. Noch bleibt Zeit. Für Spaziergänge durch den warmen Sand am Meer, für gelbe Kube-Suppe bei Pinati und eine Dusche unterm Wasserfall.

Bis der Tag kommt, an dem ich mich von tropfenden Klimaanlagen und unterkühlten Zügen verabschieden muss, um in meine immerkalte Heimat zurückzukehren.

Abschied

Ich habe gepackt. Die letzten zwei Jahre in drei große Pappkartons verstaut und zur Post in Katamon gebracht. „Wer ist denn der Letzte in der Schlange?”, fragt die Dame, die gerade zur Tür hereingekommen ist. Eine Frage, die sich hier sonst niemand stellt. Nummer ziehen und trotzdem vordrängeln, lautet die Devise.

Ich habe mich verabschiedet. Ein letztes Goldstar mit Freunden getrunken und ihnen später so lange gewunken, bis sie in der Nacht verschwanden. Der Platz im Sammeltaxi zum Flughafen ist reserviert, der Rucksack noch immer ein bisschen zu voll.

Heiner und ich sind bereit zur Abreise. Wieder stehen wir am Flughafen, dieses Mal in Tel Aviv. Eine Frau mit rotem Haar und Sommersprossen kommt lächelnd auf mich zu und fragt nach meinem Pass. Flughafenkontrolle. „Den Rucksack hast du selbst gepackt?” Ich nicke. „Und du hast ihn auch zu keinem Zeitpunkt aus den Augen gelassen?” Ganz sicher nicht. „Ich frage dich das, weil…”

„Ich weiß schon”, antworte ich in Gedanken, lasse sie aber trotzdem ausreden. Es ist der gewohnte Flughafendialog. Wenig später bittet sie mich, ihr Einblick in Heiners Innenleben zu gewähren. Also öffne ich ihn – meinen dicken, roten Reiserucksack. Zwischen Dreckwäsche und Souvenirs zieht die Frau mit den Plastikhandschuhen ein Buch hervor. Die Israelis lautet der schlichte Titel. Auf dem bunten Umschlag zeigt sich die israelische Gesellschaft in ihrer Vielfalt: Ein Orthodoxer, eine Soldatin und zwei säkulare Tel-Aviver sind darauf zu sehen. Die Frau von der Flughafensicherheit scheint skeptisch. Sie blättert sich vom Inhaltsverzeichnis bis zum Nachwort, bis sie sich plötzlich umdreht und einen Mann aus der Ferne zu sich ruft. Der Typ mit dem Headset am Ohr und der Sonnenbrille auf der Glatze sieht ziemlich wichtig aus. Ungeduldig hält sie ihm mein Buch vor die Nase. Dabei guckt sie ein bisschen so, als hätte sie soeben Dynamit in meinem Koffer gefunden. Er murmelt irgendwas, scheint im Gegensatz zu ihr aber unbeeindruckt. Ich hingegen habe nicht die geringste Ahnung, welches dunkle Geheimnis sich zwischen den zwei Buchdeckeln verstecken mag. Endlich kommt sie zurück.

„Was ist das für eine Sprache?”, fragt sie kühl und deutet auf den Titel des Buches. „Deutsch”, antworte ich ahnungslos. „Soso”, erwidert sie trocken.

Ich schaue fragend. „Da haben Sie aber Glück, dass es nicht Englisch ist”, sagt sie jetzt, ohne dabei auch nur ein Mal mit der Wimper zu zucken. „Englisch? Wieso Englisch?”

Irritiert schiele ich erneut auf das Buch in ihrer Hand, um dem Titel seine englische Bedeutung zu entlocken. „DIE ISRAELIS”, steht da plötzlich. Endlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Auf Englisch ist aus meiner harmlosen Reiselektüre eine reißerische Hetzschrift geworden. Auf Deutsch bleibt es ein stinknormales Sachbuch. Ich darf den Koffer wieder schließen. Habe das Rätsel gelöst und die Kontrolle überstanden. Während Heiner und ich noch am Check-In-Schalter stehen, haben die israelischen Touristen das erste Ziel ihrer Reise längst erreicht: Zwischen Waschmaschinen, Staubsaugern und extragroßer Toblerone sind sie im Duty-free-Himmel gelandet.

Auch ich habe noch ein paar Shekel übrig und lande schließlich in einem kleinen Musik- und Filmgeschäft. Lasse mich von der freundlichen Verkäuferin dazu verleiten, vier CDS für den Preis von drei zu kaufen und zahle am Ende doch mit Karte, weil für das unschlagbare Angebot mein Geld im Portmonee nicht reicht. Wie jedes Mal.

Stattdessen hau’ ich die Shekel für Burger und Pommes zum Frühstück auf den Kopf. Auch wie jedes Mal.

Ein gewöhnlicher Abschied aus einem ungewöhnlichen Land.

Als das Flugzeug endlich abhebt, bleibt ein Teil von mir zurück. Am Strand von Tel Aviv, auf den Straßen Jerusalems, in der Wüste am Toten Meer. Aus einem fremden Flecken Erde ist ein vertrauter Ort geworden. Ein Zuhause das bleibt, auch wenn ich weiterziehe.


Hannah Stobbe, 29 Jahre
war von 2008 – 2009 Freiwillige in einem Jerusalemer Internat und von 2012 – 2014 Studentin an der Hebräischen Universität. Heute lebt sie in Kiel und Berlin.