Christin Löchner / 30 Jahre

Nessia tova – Busfahren

Viel lieber als mit dem städtischen, fahre ich in Israel Überlandbus. Vor allem, weil man oft das Gefühl hat,  in das Wohnzimmer einer altersverrückten und sammelwütigen Oma einzusteigen als in ein Fahrzeug. Manch Fahrerraum ist gefüllt mit schrillem Plastikgestrüpp oder Kuscheltieren. Letztere erinnern mich an Kuscheltiere in Greifautomaten, vor denen man frustriert steht, weil man mit den Jahren Schwindel der nicht richtig greifenden Zange durchschaut. Das ist auch der Grund, weshalb die Wahrscheinlichkeit, ein Kuscheltier zu ergattern, unter 0,5% liegt. Doch einige Busfahrer müssen richtige Experten darin sein, solche Automaten zu bedienen. Meinen Neid besitzen sie jedenfalls. Und auch für weiteren Dekorationsbedarf ist dank ausgewiesener Einkaufsmöglichkeiten gesorgt. Lange habe ich mir eingebildet, dass niemand ernsthaft auf die Idee käme, in den zahlreichen Krimskrams- und Ramschläden des Landes den toxischen Kitsch aus Plastik zu kaufen. Ich war überzeugt, dass diese Geschäfte nur aus Kunstgründen existieren – doch wurde ich eines besseren belehrt: den Klimbim findet man im Bus. Sehe ich einen ganz besonders liebevoll gestalteten Innenraum, jonglieren meine Gedanken in Albernheiten. Eine der immer wiederkehrenden Fragen ist dann, warum es in Israel alle nur vorstellbaren Sicherheitskräfte gibt, man aber für eine Geschmackspolizei keine Veranlassung sieht. Dass ich von solch Fahrerräumen wunderbar fasziniert bin, merke ich daran, dass ich mich in einem hübsch dekoriertem Bus immer besonders gerne vorne hinsetze, sodass ich während der Fahrt genug Zeit habe, mir jedes einzelne Exemplar ganz genau anzuschauen. Manchmal gibt es sogar Lichteffekte, häufig in der Farbe Rot. Dieses intensive Rotlicht verleiht den aufgehängten Stücken einen ganz besonderen Touch. Manchmal reicht statt der Innenausstattung auch nur der Fahrer selbst, um sich wie bei der Verwandtschaft zu fühlen. So kann es passieren, dass er an einer Bushaltestelle hält und eingeschlafene Passagiere weckt, um sie an ihren Ausstieg zu erinnern, man die gesamte Langstreckenfahrt Lieder wie Country Roads vorgeträllert bekommt oder das Radio so laut ist, dass man annimmt, in eine mobile Disko eingestiegen zu sein. Erst neulich spielte einer die gesamte Fahrt das neueste Partylied Ha’Chaim schelanu tutim.
Einmal verlor ich an einer Haltestelle meine umgehängte Jacke, ohne es zu merken. Trotz der Wärme ist es hier besonders klug, eine Jacke dabei zu haben. Die Wahrscheinlichkeit ist einfach zu groß, mit einem Eiszapfen an der Nase auszusteigen. Meine These ist mittlerweile, dass die meisten Israelis am liebsten in Island wohnen möchten, aber das ist ein anderes Thema. Der Fahrer bemerkte jedenfalls meinen Verlust und tuckelte langsam, hupend und gestikulierend neben mir her – ganz so, als ob er nicht gerade die viel zu enge Straße blockieren würde. So nett sind sie hier, die Busfahrer.
Ab und zu muss man aber auch etwas um sein Leben fürchten. So werden andere Autos ausgebremst, wild angehupt oder kleinere Verkehrssignale wie Stoppschilder missachtet.

Neulich war ich vom Nordosten der Stadt auf dem Weg nach Hause. Es war spät, mitten in der Woche und ich die einzige einsteigende Person. Und da saß er, der Bilderbuch-Busfahrer. Die Musik so laut aufgedreht als wäre man auf einem Rummelplatz, lächelte er und schrie mit tausend Kernen im Mund „Erev tov“. Ich musste grinsen und war erstaunt, dass er es tatsächlich schaffte, noch lauter zu sein als die Musik, ohne mich dabei mit halbzerkauten Kernteilen vollzusprudeln. Ich entgegnete mit einem ebenso höflichen „Erev tov“ und setzte mich auch diesmal ganz nach vorn. Der Fahrer griff mit seiner Hand in die Geldschale, welche nun als Vorratsbehäter für die Kerne diente, um während der Fahrt genüsslich knabbern zu können. Das Kleingeld sammelte er dafür in seiner Hosentasche. Die war allerdings so voll, dass in jeder Kurve mindestens drei Schekel auf den Boden rollten. Mit einer Hand am Lenkrad und der anderen voller Kerne drehte er sich um und hielt mir grinsend den kleinen Haufen entgegen.
„Achtung, rot!“, sagte ich geradeaus blickend und etwas panisch. Ich traute mich nicht die Augen abzuwenden, denn wenigstens einer von uns sollte den Blick auf der Straße behalten. Der Fahrer machte eine erstaunliche Vollbremsung und kam noch rechtzeitig zum Stehen. Da kullerten sie wieder, die Schekel aus der Hosentasche. Mir war etwas schummrig. „Nimm schon“, entgegnete er mir noch immer grinsend, als wäre das mit der roten Ampel gar nicht passiert und erzählte mir dabei einen Witz. Ich stand auf und nahm die winzigen, tellerrunden Kerne. So richtig konnte ich mich auf seine Ausführungen nicht konzentrieren, einerseits wegen der lauten Musik, andererseits wollte ich mit meiner Konzentration seine selbst gewählte Ablenkung abfedern. Jedoch verstand ich die Pointe. Ihm fiel noch einer ein. Mittlerweile waren wir schon in der Innenstadt – in nur sieben Minuten. Eine normale Fahrt auf dieser Strecke dauert locker fünfundzwanzig. Zwar versuchte er mit kunststückhaften Bremsmanöver an Bushaltestellen anzuhalten, aber komischerweise wollte niemand anders in diesen letzten Partybus einsteigen – welch Erlebnis sie verpasst haben!


Christin Löchner, 30 Jahre
war im Rahmen ihres Studiums der Jüdischen Studien für insgesamt 2 Jahre in Israel – hauptsächlich in Jerusalem