Salya Föhr / 29 Jahre

Lechaim

“We come too far
to give up who we are
So let’s raise the bar
and our cups to the stars“

Seitdem ich mich erinnern kann, hat samtenes Rot von Theatersälen auf mich eine schneidende Wirkung, sind das Geräusch von klatschenden Händen und der Geruch des schwarzen Bühnenbodens das Paradies. Irgendwann werde ich auch einmal fünf Stunden auf der Bühne das Publikum anschreien. – Schauspiel Leipzig. Der große Saal und die nicht ganz ausverkauften Reihen. Die Menschen, die dort saßen. Der Abend ging fünf Stunden und es waren Literaten aus Israel in Leipzig. Ich war auch da, aber nicht auf der Bühne. Ich habe zugesehen.

Ich will das mit jedem Funken meines großen Körpers. Mein Körper ist so groß, weil er gesehen werden will, weil auf ihn projiziert werden soll. Ich will tanzen. Ich will mich abarbeiten und zerreiben und verausgaben.

Ich war dort, als Zuhörerin. Amos Oz war da und sprach über seinen neuen Roman Judas. Ich schaute mir das alles an, aus dem Parkett. Ich glaube, ich saß etwas weiter hinten. Aber eigentlich stand ich auch mal auf der Bühne. Viele Jahre meines Lebens, einmal, nein dreimal auch in Israel. Aber nicht an diesem Abend. Ich habe ja auch kein Buch geschrieben, zumindest ist noch nichts veröffentlicht.

Zu Hause in meinen Regalen, da weben sich mehrere Erzählfäden durch und hin zum Land Israel und jüdischer Kultur. Da stehen beisammen und tuscheln nachts, wenn ich schläfst miteinander: Paul Celans Meridian und andere Prosa, Rose Ausländers Regenwörter, Theodor W. Adornos Minima Moralia, David Grossmans Wohin du mich führst, Gershom Scholems Judaica, Sammy Gronemanns Tohuwabohu, Walter Benjamins Kindheit um 1900, Samuel Agnons Buch der Taten, Isaak Babels Mein Taubenschlag, Joseph Roths Hiob, Claude Lanzmanns Der patagonische Hase, Angelika Schrobsdorffs Jerusalem war immer eine schwere Adresse und Maxim Billers Der gebrauchte Jude.

In meinem Regal, da steht aber natürlich auch er, Amos Oz mit seiner Geschichte von Liebe und Finsternis, die auch zu meiner persönlichen wurde, als ich vor nunmehr sechs Jahren meine Bachelorarbeit über Israel als zwingend notwendigen Heimatort in seinen Werken geschrieben habe. Vor zwei Jahren nun also war Israel Gastland auf der Leipziger Buchmesse und vor sechs Jahren war ich Gast auf israelischem Boden mit einem Theaterstück. Nicht mal vier Jahre vor dem Gazakrieg und den hässlichen Ausschreitungen bei pro-palästinensischen Demonstrationen mit antisemitischer Hetze gegen Juden in zahlreichen deutschen Städten. Selbst wenn ich diesen Satz schreibe kann ich ihn bereits nicht mehr lesen, weil ich ihn zu oft ertragen habe in den letzten Jahren. Langeweile schleicht sich in die Bedrohung. Sie macht sie träge. Langeweile bewohnt mein Herz. Das Herz möchte abtreten. Wegtreten in einen anderen Zustand fern dem zermürbenden der Realpolitik und auch fern der außerordentlichen und ordentlichen Hauptversammlungen mit allzu vielen Gespenstern in Krawatten, zugeknöpften Krägen und diesen lächerlichen Israel-Deutschland-Pins am Revers. Nieder mit den Facebook-Gruppenbildern, ich kann sie nicht mehr sehen. Ein schlagendes Herz jenseits der immer wieder kehrenden Barabende voller gediegener, staubiger, selbstgefälliger Langeweile. Wo bleibt denn eigentlich Franz Kafka? Was ist mit Rainald Goetz? Sie wohnen noch in mir und das Rascheln beim Umblättern ihrer Werke rieselt als sanftes Rauschen in meinen warmen und ungeduldigen Verstand. Wenn man sich am Abend endlich entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl bei beleuchtetem Tische sitzt –

“I’m up all night ‘til the sun
He’s up all night to get some
I’m up all night for good fun
He’s up all night to get lucky“

Aber ich war bei Israel. Ich bin es schließlich immer. Bei Israel. Das hat aber jetzt nichts mit der oft gerühmten Israelfreundschaft zu tun. Ich bin kein Freund Israels. Diese eklig anbiedernde Formulierung ist unerträglich und gehört verboten. Wo ist denn eigentlich diese Solidarität geblieben? Sitzt sie zusammen mit Franz Kafka in einer dunklen Höhle und traut sich nicht mehr heraus, weil sie von vor Versöhnung und Pazifismus triefenden Texten und Gedichten in Bezug auf deutsche Vergangenheit und dem leeren Gerede von Staatsräson geflohen ist? Verübeln könnte ich es ihr nicht, der bedingungslosen Israelsolidarität. Bei einigen löst dieses Wortpaar ja leider Zuckungen im Gesichtsfeld aus – und nein ich rede hier nicht von den altbekannten Leuten. Ich rede von jenen, die angeblich auf der richtigen Seite stehen. Wie dem auch sei. Wo war ich? Achja, bei der Buchmesse und diesem langen Wochenende. Mit so viel wacher Müdigkeit und ein wenig Goldstaub.

Ich will tanzen. Ich will mich abarbeiten und zerreiben und verausgaben und manchmal will ich zur Elite gehören –

Ich war bei der Bühne, nicht auf ihr. Dieser schwarze, hell angestrahlte Boden, der mich daran erinnert, wie ich zu Israel kam. Durch das Theater flog es auf mich zu, wie ein großer heller Monolith, der mich mit seinen schönen trockenen Landschaften, seinen verschlungenen Straßen und Lichteinfällen überwältigte. Drei Auftritte im Theater von Herzliya. Verschwand mein Herz etwa in Herzliya? Ist es dorthin gewandert, fragte ich mich, als ich da auf dem rot gepolsterten Stuhl im Schauspiel Leipzig saß und Amos Oz beim Vorlesen lauschte. Möglich war es. Wir sehen zu und sind betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen. Betroffen sind ja immer sehr viele, wenn sie sich mit deutscher Geschichte und der Shoah befassen. Das war schon alles ganz unsäglich schlimm damals. Diese armen Juden. Diese vielen armen toten Juden. Wie traurig. Was die alles erleiden mussten. Aber die haben sich ja auch wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen, dass muss man ja auch mal sagen. Das muss man ja wohl noch sagen dürfen. Und der Siedlungsbau in Israel, der ist ja nun auch schlimm. Das ist doch legitime Kritik an der Netanyahu-Regierung. Meine Lieblingsschriftsteller sind übrigens Günter Grass, Erich Fried und Martin Walser haha. Wenn also die israelische Regierung immer so viele Menschenrechte verletzt, dann sollen sich doch diese Juden nicht wundern, dass der Antisemitismus zunimmt. Irgendwas müssen die doch schließlich getan haben. Niemand wird seit Jahrtausenden einfach so verfolgt. Da sollen die sich nicht wundern. – Da wundere ich mich. Auch wenn ich mir das auch abgewöhnen könnte, dieses Wundern. Schließlich fällt heutzutage auch das Anzünden von Synagogen nicht mehr unter Antisemitismus und über Israel zerreißen sich alle die Münder. In mir ist auch etwas zerrissen nach meinem ersten Besuch in Eretz Israel und Yad Vashem. Wie kann man da auch ganz bleiben? Noch nie hat mich die Farbe Weiß so…

Ich beugte mich in dem roten Stuhl vor und merkte leichte Rückenschmerzen. Die lange Lesenacht war vorbei. Es folgten weitere Tage und Nächte des Zusammenseins fernab des Schauspiels, die sich nach und nach zerwebten zu Schwere- und Zeitlosigkeit, ein Beisammensitzen im Conne Island und einer gemeinsamen Taxifahrt nach Hause, um drei Uhr morgens. Die Stunde sprang aus der Uhr, stellte sich vor diese, und befahl ihr richtig zu gehen. Auch ich ging damals, weg aus Israel, zurück nach Deutschland und doch blieb ein Teil meiner oberen sanften Hautschicht in diesem Land und seinen Entfernungen, seinen Wüsten und Bauhaus-Alleen, flankiert von hebräischen Schriftzeichen, eckig und zart, zurück. Unser Theaterstück spielten wir auf Deutsch. Draußen vor dem Schauspiel in Leipzig war es ein wenig kalt. Ich (wir?) entfernte mich ein paar Schritte, die im Laufe der Tage zu einer größeren Summe von Momenten verschmelzen würden wie dünner Schnee, der sich behutsam auf mich legt und mich wärmt wie ein sehr guter Freund. Weiß, noch nie hatte mich eine Farbe so… Auf der Bühne stehen, das bedeutet auch immer gesehen zu werden. Auf der Bühne stehen, das bedeutet auch immer gesehen werden zu wollen.

Ich schaue euch an und ich stehe gerade und ich stehe fest auf der Bühne und ich strahle und die Scheinwerfer strahlen und ich springe, nein ich gleite dem Boden entgegen, ich rutsche einfach auf dem Boden, durch das Wasser. Wenn ich schon da bin, dann muss ich auch rutschen, dann muss ich mich auch unterwerfen und dadurch aufbegehren, ich muss mich fallen lassen. Ich muss euch fallen lassen. Auf die Bühne schmeißen und auf alles andere nichts mehr geben. Ich werde nass und ich tanze auf der Bühne, und Israel ist noch da. Es ist nur so groß wie Hessen, aber es ist noch da. Meine Füße bewegen meinen Körper, sie drehen meine Beine und meine Arme vollführen Gesten in den schwarzen Himmel des Theatersaals und ich werde angesehen, die Blicke sie wenden sich nicht ab, sie wenden sich mir zu und ich werde gesehen, ich werde endlich gesehen.

Genau das will ich mit jedem Funken meines großen Körpers. Ich will tanzen. Ich will mich abarbeiten und zerreiben und verausgaben und ich gehöre zur Elite. Ich bin die Spitze. Ich bin ein Genie. Ich bin das Beste. Ich bin das Beste, was euch allen je passieren wird.

“Like the legend of the phoenix
our ends with beginnings
What keeps the planet spinning?
The force of love beginning
Oh we come too far
to give up who we are“

 

 

 

 


Salya Föhr, 29 Jahre
hat gemeinsam mit dem Theater der jungen Welt im Jahr 2010 Israel besucht und dort in Herzliya auf der Bühne gestanden und Theater gespielt. Mit dem Stück „Kinder des Holocaust“ waren sie auf Einladung des Goethe-Instituts Tel Aviv in Israel. Sie promoviert in Theaterwissenschaft und engagiert sich gegen Antisemitismus.