Christina Wirth / 23 Jahre

(Über)Leben in Israel – Willkommen in 5 Etappen

„Dein Zimmer sieht ja genauso aus wie vorher! Wir haben unsere verändert… Wenn du möchtest, helfen wir dir beim Umstellen.“ Dann verließ Anne zusammen mit Leo mein neues Zimmer und ich blieb alleine auf meinem Bett sitzen und streichelte die gestreifte Katze, der ein Stückchen ihres Ohrs fehlte. Wir haben der Katze noch keinen Namen gegeben, beziehungsweise wir streiten noch darüber. Die anderen wollen sie Habi nennen, was in einer mir unbekannten Sprache wohl Pirat bedeutet. Ich finde Habi aber mehr als unpassend, denn das klingt wie Habibi, und so wird schließlich jeder im arabischen Viertel der Altstadt genannt und dafür ist die Katze viel zu bedeutsam. Ich würde sie gerne Hannah nennen, aber dafür ist sonst keiner. Anne hat recht, mein Zimmer hatte sich nicht verändert. Mein Schreibtisch stand an der gleichen Stelle, genau wie Bett und Schrank. Auch meine Poster hing ich hier, zwei Stockwerke über der alten Wohnung, an der gleichen Stelle auf. Wieso auch nicht?! … Ich mochte es unten, wie es war.

Aber da sind wir ja schon mittendrin! Es fing alles ganz anders an…

„Passengers to Tel Aviv! Passengers to Tel Aviv!“ Hier musste ich mich nun einer Reihe von Fluggästen anschließen, die nach Israel flogen. Ich hatte das ungute Gefühl diejenigen, die nicht mit uns flogen beobachteten uns argwöhnisch. Ist das der Blick, den man erntet, wenn man für einen Israeli gehalten wird oder bilde ich mir das nur ein? Es ging schnell zu einem weiteren Sicherheitscheck bevor ich ins Flugzeug durfte. Ich saß am Fenster und beobachtete die einsteigenden Passagiere. Und da war sie, die erste offensichtlich israelische Frau im Flieger. Sie war älter und sehr klein. Sie trug ein Buch in hebräischen Lettern unter ihrem Arm und war dicht gefolgt von ihrem Mann, der noch etwas älter war, als sie selbst. Sie saß in der Reihe vor mir und begann zu lesen, von rechts nach links! Ich war beeindruckt! Ich konnte maximal einzelne Wörter entziffern und sie las in einem schnellen Tempo. Der Flug verlief problemlos. Angekommen in Tel Aviv musste ich durch das vielbeschworene Sicherheitsgespräch und kam endlich in der Willkommenshalle an, ohne aber willkommen geheißen zu werden.

Willkommen in Israel 1.0

Nachdem ich mir Proviant und israelische Shekel besorgt hatte, ging ich an der Ben Gurion Büste vorbei nach draußen. Hier wollte ich mit einem Sherut direkt nach Jerusalem zu dem Studentenwohnheim fahren. Ich ging auf den Fahrer zu und sagte ich wolle ins Student Village, er verstand mich aber leider weder auf Englisch noch auf gebrochenem Hebräisch. Da mischte sich jemand von der Seite ein… Es war die Frau aus dem Flugzeug. Sie fragte mich kurz aus, wo ich hin wolle und hat alles weitere geregelt. Ich war sehr dankbar und durfte mich zu ihrem Mann stellen. Nachdem sie alles abgemacht hatte, stiegen wir in den Wagen und sie bat mich bei ihnen zu sitzen. Die ganze Fahrt über redeten wir über Gott und die Welt. Ihr Name ist Pnina und sie lebt in Jerusalem. Bevor ich aussteigen musste, gab ich ihr meine Handynummer. Sie hat durch ihre liebevolle und herzliche Art das fehlende Willkommen nachgeholt.

Willkommen in Israel 2.0

Im Student Village angekommen musste ich meine Schlüssel abholen. Ich war aufgeregt und habe nicht richtig zugehört, wo genau mein Zimmer nun ist. Nachdem die Verwaltung „Buildung zwei“ gesagt hatte, muss ich wohl abgeschaltet haben, denn ich war vollkommen aufgeschmissen. Auf meinem Schlüsselbund standen Zahlen, an denen ich mich orientierte. Ich reimte mir zusammen, auf welchem Stockwerk mein Zimmer wohl sein muss und platzte in eine leere Wohnung und klopfte an die erste Zimmertür. Ein halbnackter israelischer Student machte die Tür auf und war sichtlich verwirrt, was ich wollte. Nach einem Moment der peinlichen Stille zog er sich etwas über und erklärte mir, wo ich hin musste. In meiner Wohnung hatte ich das Zimmer, was im Ernstfall als Bunker dient. Ich war zutiefst schockiert darüber. Ich hatte Doppeltüren und konnte mein Fenster mithilfe einer schweren Mettalplatte abriegeln. Ich hielt mich mit dem Gedanken über Wasser, dass Raketen nie bis Jerusalem gelangen konnten und ich niemals diese Metallplatte bewegen müsste. Mulmig war mir allerdings schon dabei. Es war noch niemand zu Hause und so entschied ich, mich nach der anstrengenden Anreise erstmal auszuruhen. Kaum war ich eingenickt, hörte ich Geräusche in der Wohnung. Das musste eine meiner neuen Mitbewohnerinnen sein. Ich stürzte aus meinem Zimmer und traf auf eine Britin in meinem Alter. Dass es sich bei dem Mädchen um eine Britin handelte, war nicht schwer auszumachen. Sie hatte einen so starken Akzent, dass es schwer war ihr zu folgen. Außerdem war das erste, was sie tat, einen Tee aufzusetzen und Milch hinein zu tun. Auch sehr britisch meiner Meinung nach. Ihr Name war Hannah und sie war schon zum Ulpan angereist. Gerade hatten sie Pause und musste bald zurück. Wir redeten und sie zeigte mir trotz der wenigen Zeit die sie hatte den Weg zum Supermarkt. Dort haben wir uns etwas verquatscht und sie kam zu spät zu ihrem Kurs. Sie war sehr sympathisch und machte viele Witze, das gefällt mir. Ich richtete mich ein und kochte etwas sehr Simples und genau währenddessen kamen die beiden anderen Mitbewohnerinnen an. Es waren Anne aus Amsterdam und Victoria, die aus der gleichen deutschen Studentenstadt kam, wie ich. Aus der Traum, mit Israelis zusammen zu wohnen. Ich war wirklich sehr enttäuscht. Ich ließ sie von meinen Nudeln mitessen, ich schämte mich, nichts gekocht zu haben, das etwas Besonderes war. Das Kochen sollte Annes Metier werden – sie bekochte mich sehr oft zusammen mit unserem italienischen Freund Leo.

Es war nun an der Zeit die Stadt anzuschauen. Am gleichen Abend brach ich alleine auf, um mir eine Rav-Kav-Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel zu kaufen. Ich nahm die Light Rail, die auch an der Altstadt vorbeifuhr und staunte nicht schlecht. Es war zwar schon dunkel, aber ich konnte die Stadtmauer der Altstadt sehen mit ihren riesigen Steinen. Ich konnte es kaum erwarten durch eine ihrer Tore zu gehen. Ich sah das Damascus Gate umgeben von vielen Menschen, die eilig ihres Weges schritten. Das beleuchtete Jaffa Gate und hinter den Mauern den Turm von Davids Zitadelle. Die Dunkelheit gab dem Ganzen einen magischen Anklang. Am liebsten wäre ich hier sofort ausgestiegen. Ich bin leider einige Stationen vor derjenigen ausgestiegen, an der man die Fahrkarte kaufen kann. Mein Ticket war nun nicht mehr gültig und ich musste mir ein Neues kaufen…aber…WAS? Das kostet nochmal vier Shekel! Niemals, da laufe ich lieber! …selbst Schuld, wenn man Shekel und Euro im Kopf gleich setzt… Ich bin also vier Stationen durch strömenden Regen gelaufen, habe mich währenddessen zweimal verlaufen, weil ich von dem Mahane Yehuda Markt, dem Shuk, abgelenkt war. Endlich angekommen bekam ich die Karte. Auf dem Foto sehe ich aus wie ein begossener Pudel. Nach dieser Aktion war ich erstmal eine Woche lang krank. Wer hätte gedacht, dass es in Jerusalem so kalt sein kann. Victoria zumindest nicht, sie ist ohne Winterjacke nach Israel eingereist und wir mussten ihr ganz schnell eine warme Jacke kaufen.

Willkommen in Israel 3.0

Nach ein paar Tagen habe ich mich erneut mit Pnina getroffen. Wir verabredeten uns in dem Aroma Café neben der Uni. Ich fühlte mich ganz geborgen und sicher um sie herum. Die Sicherheit, die sie ausstrahlte, stand entgegen der Wirren des Neuen und Fremden, mit dem man gerade zu Anfang in Israel konfrontiert wird. Vom Straßenverkehr bis zum alltäglichen Einkaufen in Supermärkten erscheint alles etwas anders – irgendwie hektischer – und diese Hektik überträgt sich schnell. Wir redeten ganz viel über uns und kamen uns dadurch sehr nah. Nach einer Weile kamen wir zum Thema der Shoah. Ich war vor Abflug sehr besorgt, wie es wohl ist mit den Nachkommen der Überlebenden zu sprechen während ich selbst in gewisser Weise von Tätern abstamme. Teile meiner Familie halfen dabei jüdische Bekannte zu retten, andere hingegen blieben still oder schlossen sich sogar der SS an. Dieses paradoxe Bild der Familiengeschichte macht den Umgang mit dem NS sicherlich nicht einfacher, als für andere Nachkommen. Mit Pnina zumindest war es kein bisschen unangenehm, ich hing an ihren Lippen. Die Geschichte ihrer Familie ist sehr dramatisch und traurig, es gibt auch ergreifende Momente des Lichts, die derart positiv und erfüllend sind, gerade was das Überleben anging, dass sie sogar mich berührten, mehr als 70 Jahre danach, ohne dass ich die Beteiligten persönlich kannte. Pnina wurde mir vor Ort eine zweite Mutter, regelmäßig kam ich zu ihr und ihrer Familie und wir hielten Shabbat-Abendessen ab. Sie schenkte mir auch Töpfe und Geschirr für die Wohnung. Sie war immer für mich da. Ich fühlte mich aufgenommen und war sehr stolz eine so schillernde Person wie Pnina kennengelernt zu haben. Sie ist so großartig, wie die Frauen, die in Kindergeschichten beschrieben werden. Nur habe ich sie wirklich getroffen! Sie arbeitete schon bei der Polizei und als Detektivin, obwohl sie so klein ist. Mit ihrer Körpergröße sprengt sie den Rahmen der polizeilichen und detektivischen Arbeit und allen damit einhergehenden Stereotypen der starken Männlichkeit, mir nichts, dir nichts auf! Wahrscheinlich, ohne zu wissen, was sie damit für großartige Signale sendet an alle kleinen Frauen dieser Welt, zu denen wohl auch ich zähle. Außerdem ist sie mehrfache Mutter und Großmutter. Sie hat ihr Leben dermaßen im Griff, dass sie großen Vorbildcharakter hat!

Am nächsten Tag war es endlich an der Zeit die Altstadt zu besichtigen. Hannah erklärte sich bereit uns herumzuführen. Wir nahmen die Light Rail bis zum Jaffa Gate. In der Altstadt angekommen war ich überwältigt von den Eindrücken und den vielen Menschen. Eine reine Reizüberflutung. Durch die kleinen Gässchen auf dem rutschigen Jerusalem-Stein gingen wir zunächst zur Grabeskirche. Hier war ich konfrontiert mit christlichem Wahnsinn. Wir traten ein und es war unglaublich voll. Vor dem Stein geradeaus knieten die Menschen und rieben wahlweise ihre Tücher oder ihre eigene Nase über ihn. Ich war überfordert. Es roch nach Menschen und Chrisam Öl, ich wollte nur noch raus. Diesen Wahnsinn konnte ich nicht nachvollziehen. Jerusalem ruft seltsame Dinge in stark religiösen Personen hervor – Stichwort Jerusalem-Syndrom. Anschließend waren wir hungrig und gingen zum nächsten Hummusladen und wurden erstmal ordentlich abgezogen. Der Hummus war trocken und viel zu teuer. Nachschub an Brot gab es auch nicht kostenlos. Das soll das letzte Mal gewesen sein, dass ich auf so eine Touristenfalle hereingefallen bin! Israel verwandelt Menschen in Hummussnobs, darüber kann man in wahre Streitigkeiten verfallen. Hat der beste Hummus viel oder wenig Tehina? Ist er fest oder flüssig? Isst man ihn mit Brot, Gurken oder Zwiebeln? Wer in Israel leben möchte, der muss sich für eine Seite entscheiden. Danach ging es weiter durch immer verwinkeltere Gassen ins jüdische Viertel bis zur Klagemauer. Nachdem wir den Sicherheitscheck hinter uns hatten verschlug es mir die Sprache. Die Kotel ist noch beeindruckender als auf jedem Foto. Ich arbeitete mich durch die Frauenseite bis zur Mauer des ehemaligen Tempels vor und berührte den Stein. Er war angenehm angewärmt und schon glatt von den vielen Generationen von Frauen, die ihn vor mir berührt haben. Ich beobachtete die Frauen um mich herum, sie beteten mit ihrem Körper eng an die Mauer gedrückt. Ich machte es ihnen nach und presste mich nun auch den warmen Stein. Ich sog seinen eigentümlichen Geruch ein, den man nur hier, ganz nah an der Kotel riechen kann. Meine Nase an die Kotel zu drücken war etwas ganz anderes als die Nase an den Stein zu pressen, an dem Jesus seine letzte Salbung erhalten hat. Warum weiß ich nicht so genau. Die Kotel ist ein Ort, an dem man die Seele baumeln lassen kann, die Grabeskirche hingegen ist sehr stressig für mich.

Ab dann fing die Uni an und jeder von uns entwickelte seinen Alltag. Unsere Stundenpläne waren sehr verschieden, sodass wir alle zu unterschiedlichen Uhrzeiten aufstanden und Mittag aßen. Hannah ernährte sich von einer Cornflakes- und Tee-Diät. Ich gewöhnte mich nach einigen Tagen an das nächtliche Geräusch des Cornflakes in eine Schüssel Schüttens. Hannah war tagsüber dermaßen beschäftigt mit dem Lernen für ihre geliebten Seminare und verschiedenen Stadterkundungen, dass sie sich erst nachts ihren Cornflakes und der gestreiften Katze zuwandte. Sie saß auf dem Sofa, die Katze auf dem Schoß und schaute Filme auf ihrem Laptop oder skypte mit ihrer Mutter Stella. Anne, Leo und ich versuchten öfter gemeinsam zu kochen, da wir drei es nicht mochten alleine zu essen. Für Hannah und mich wurde es zur Routine die Straßenkatzen im Student Village zu füttern, wir kauften Katzenfutter und machten jeden Tag eine Tour. Die gestreifte Katze mit dem kaputten Ohr wurde schnell zu Hannahs Schatten. Sie folgte ihr inzwischen sogar ins Bett. Mich wunderte es überhaupt nicht als ich bemerkte, dass das dreckige Tier auch in Hannahs Bett schlief. Das schien mir undenkbar für mich…zumindest zu diesem Zeitpunkt….Am schlimmsten war für uns alle der Shabbat. Es gab nichts zu tun und wir konnten nicht einmal reisen, da die öffentlichen Verkehrsmittel nicht fuhren. Uns fiel die Decke auf den Kopf und wir mussten uns Beschäftigungen einfallen lassen. Oft gingen wir über den Ölberg in die Altstadt und aßen dann im arabischen Viertel. Hier waren die Geschäfte wenigstens geöffnet. An anderen Tagen aßen wir gemeinsam mit anderen Studenten. Ich fand heraus, dass die Bar für Studenten die Straße herunter jeden Shabbat ein Abendessen veranstaltete, zu dem jeder etwas zu Essen mitbringen sollte. Dort lernte ich erstmals israelische Studenten kennen. Am besten verstehe ich mich mit Ossi, sie studiert auch eines meiner Fächer und wir haben viel gemeinsam. Sie wird bald an meiner Universität in Deutschland studieren und wir freuen uns riesig, so noch mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Die Zeit mit ihr und ihren Freunden war sehr schön für mich.

Langsam hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein in Jerusalem. Ich kannte mich aus und konnte ohne GPS durch die Stadt laufen und hatte einen festen Alltag. Die Pessach-Ferien standen bevor und jeder hatte andere Pläne. Hannah machte bei einer Ausgrabung mit und wir anderen bekamen Besuch von den Familien, um zu reisen. Hannah kam jeden Tag bedeckt von Dreck in die Wohnung und war beflügelt von den Ausgrabungen. Sie schien ein großes Talent in diesem Gebiet zu haben, denn sie fand einen antiken Krug und das war eine Sensation. Ich bekam Besuch von meiner Mama und wir entschieden uns, Ostern in Tiberias zu verbringen um den Touristenmassen in Jerusalem zu entgehen. Ich verschenkte zum Abschied Schokoladenosterhasen an meine Mitbewohnerinnen und bot Hannah an, uns zu begleiten. Sie war sehr religiös und wollte unbedingt in Jerusalem bleiben und sich die Messen anschauen, am liebsten in der Altstadt. Und daher blieb sie dort. Auf der Busfahrt nach Tiberias lese ich, wie immer wenn mir langweilig, ist israelische Nachrichten.

Ein großer Strudel reißt mir die Füße unter dem Boden weg und saugt mich ein:

… Eine 25-jährige Britin sei in der Light Rail erstochen worden … Sofort schreibe ich Hannah eine Nachricht, um sie zu warnen was vorgefallen ist … keine Antwort … das ist nicht schlimm, denn in der Kirche schaut sie bestimmt nicht auf das Handy … nach wie vor keine Antwort … die Messe muss langsam auch mal vorbei sein … ich werde nervös … „Mama, ich glaube es ist Hannah, um die es in dem Artikel geht.“ „Mach dir keine Sorgen, die Stadt ist voller Touristen, warum sollte es da um sie gehen? Außerdem stimmt die Altersangabe nicht.“… das stimmt sie ist 20 und nicht 25, das ist ein Unterschied …der Artikel verändert sich, nicht eine Touristin, sondern eine Studentin sei das Opfer… der Klos im Hals schwillt an… Mama versucht mich zu beruhigen… dann wird die Altersangebe gesenkt und in mir wächst die geheime Gewissheit, dass entweder Hannah oder meine Kommilitonin Ruth betroffen sind … Ossi ruft mich an und fragt wo Hannah ist… Ich fühle mich in meiner Angst bestätigt… Meine Kehle schnürt sich zu … Im Hostel treffen wir zufällig Ruth… Nun kann es nur noch Hannah sein… Mama kocht Mittagessen und ich verpasse einen Anruf einer unbekannten israelischen Nummer… Mir ist klar was das bedeutet, aber ich traue mich nicht zurückzurufen … Ich habe nicht die Kraft, die Wahrheit zu hören… Mama und ich gehen spazieren und ich halte die Spannung nicht aus… Ich rufe Victoria an und sie weint am Telefon… Ich kann nicht mehr gehen und sacke auf die Knie, sie muss nichts mehr sagen. Sie wiederholt nur Hannahs Namen und bringt keinen weiteren Ton mehr raus… Meine dunkelste Befürchtung ist wahr… Hannah wurde in der Light Rail auf dem Weg in die Kirche erstochen… Ich atme tief durch und kann nicht aufstehen, meine Beine sind wie Blei… Ich rufe die unbekannte Nummer zurück und spreche mit dem International Office der Uni, dass für uns zuständig ist und erfahre die Nachricht offiziell… Ich kann und will es nicht begreifen… Ich rufe Anne an… „Hi, wo bist du gerade?“ „In einem Café, wieso? Was ist los?“ „Hast du heute die Nachrichten gelesen?“ „Nein wieso?“ „Eine Frau…Hannah…wurde heute in der Lightrail erstochen.“… Ruhe… „Was sagst du da?“ „Hannah ist tot“… „Was sagst du da? Machst du Witze?“ „Nein“ „Was sagst du da?“ „Anne, Hannah ist heute gestorben.“… Ruhe… Wir weinen in die Hörer. Wir beenden das Gespräch…. Nun bin ich gefangen in Tiberias und kann nicht nach Jerusalem zurück bis der Shabbat vorbei ist…

Willkommen in Israel 4.0

Wir fahren so schnell es geht nach Jerusalem zurück und ich halte meine Mitbewohnerinnen und meine Mama fest im Arm. Hannahs Zimmer ist unverändert da. Ihre dreckigen Schuhe der Ausgrabung stehen an der gleichen Stelle, ihr Shampoo steht in der Dusche, ihr Buch am Nachttisch ist aufgeschlagen. Ist das was bleibt? Ich organisiere den Umzug in eine andere Wohnung, der Zustand in der Alten ist unerträglich! Und hier sitze ich nun zwei Stockwerke über der Alten. Gleiches Zimmer, gleicher Aufbau, andere Welt. Die Katze ist verwirrt wo Hannah ist und ich bin es auch. Das arme Tier weiß nicht was los ist. Wer kann diese Situation überhaupt erfassen?

In der Zeit der Trauer lernte ich Israel von einer anderen Seite kennen, ich glaube erst dann habe ich verstanden wie es ist, dort zu Leben. Jeder, der mit mir sprach, wusste ähnliche Geschichten zu berichten und ich fühlte mich umgeben von Leidensgenossen. Eine Nation, die es kennt, wie schlimm der Verlust ist und dennoch (über)lebt. Hier habe ich mehr Solidarität erfahren, als ich es in Deutschland unter ähnlichen Bedingungen erwarten würde. Meine Uniprofessoren wurden meine Freunde, die Nachbarschaft, die Regierung und alle um mich herum waren für mich da und bemühten sich enorm zu helfen. Und es half! Ich lernte auch Hannahs Eltern Max und Stella kennen. Dieser Moment war der schwierigste überhaupt. Wir tauschten, nach jüdischer Tradition Geschichten aus, und ich kam Stella so nah, dass wir uns am Ende in den Armen lagen und weinten. Erst hier konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen, erst in diesem Moment hatte ich verstanden, dass Hannah nicht zurückkommen wird. Hannahs Mama schenkte mir Hannahs einzige Halskette als Erinnerung an sie. Das ist was bleibt… eine Kette und die Erinnerung.

Am beeindruckendsten war der Yom HaZikaron, der Gedenktag an die gefallenen Soldaten und Opfer von Terrorismus. Ich war auf dem Mount Herzl und stand zwischen all den Betroffenen und schwieg, während die Sirene erklang. Ich sprach mit anderen (Über)Lebenden und fand viel Trost in ihren Worten. Ich besichtigte die Platte, die für Hannah und all die anderen Opfer von Terrorismus angebracht wurde und mir wurde schwer ums Herz. Ich bin nun ein Teil der israelischen Welt und unauflöslich mit ihrer Gesellschaft verbunden.

Willkommen in Israel 5.0


Christina Wirth, 23 Jahre
lebte von Februar bis Juni 2017 für ein Auslandssemester in Jerusalem.